Die "Kleine Eiszeit" : holländische ... - Bibliothek - GFZ
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<strong>Die</strong> „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“ · Holländische Landschaftsmalerei im 17. Jahrhundert<br />
<strong>Die</strong> „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“<br />
Holländische Landschaftsmalerei<br />
im 17. Jahrhundert<br />
Gemäldegalerie Berlin<br />
Bilder im Blickpunkt
Bilder im Blickpunkt<br />
<strong>Die</strong> „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“<br />
Holländische Landschaftsmalerei im 17. Jahrhundert
Eine Ausstellung der Gemäldegalerie,<br />
Staatliche Museen zu Berlin,<br />
in Zusammenarbeit mit dem<br />
GeoForschungsZentrum (<strong>GFZ</strong>), Potsdam<br />
Gemäldegalerie,<br />
Staatliche Museen zu Berlin<br />
12. 9. 2001–6. 1. 2002<br />
Altonaer Museum in Hamburg,<br />
Norddeutsches Landesmuseum<br />
30. 1. 2002–7. 4. 2002
<strong>Die</strong> „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“<br />
Holländische Landschaftsmalerei im 17. Jahrhundert<br />
Gemäldegalerie
Herausgeber:<br />
Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin<br />
Preußischer Kulturbesitz<br />
Katalog zur Ausstellung:<br />
<strong>Die</strong> „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“ –<br />
Holländische Landschaftsmalerei im 17. Jahrhundert<br />
(Reihe: Bilder im Blickpunkt)<br />
Redaktion:<br />
Michael Budde<br />
Gestaltung:<br />
Ellen Senst<br />
Restauratorische Betreuung:<br />
Gisela Helmkampf, Beatrix Graf sowie Rainer Wendler<br />
Abbildungen auf dem Umschlag<br />
Vorderseite:<br />
Aert van der Neer,<br />
Winterlandschaft mit Schlittschuhläufern bei Sonnenuntergang,<br />
um 1655/60, Gemäldegalerie Berlin<br />
Rückseite:<br />
Cirruswolken in der Nähe einer Front, Coesfeld/Westf.,<br />
25.4.1978, 08:35 Uhr;<br />
Esaias van de Velde, Ansicht von Zierikzee,<br />
1618, Gemäldegalerie Berlin<br />
© 2001 Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin<br />
Preußischer Kulturbesitz<br />
Gesamtherstellung:<br />
Rauscher Druck und Medien, Berlin<br />
ISBN: 3-88609-195-3<br />
Printed in Germany<br />
In Zusammenarbeit mit dem<br />
In der Reihe<br />
Bilder im Blickpunkt<br />
sind bislang folgende Bände erschienen:<br />
Rainald Grosshans,<br />
Jacob von Utrecht. Der Altar von 1513, Berlin 1982<br />
(vergriffen)<br />
Jan Kelch (Hrsg.),<br />
Der Mann mit dem Goldhelm.<br />
Eine Dokumentation der Gemäldegalerie in<br />
Zusammenarbeit mit dem Rathgen-Forschungslabor SMPK<br />
und dem Hahn-Meitner-Institut Berlin,<br />
Berlin 1986 (vergriffen)<br />
Rainer Michaelis,<br />
Fridericiana. Christian Bernhardt Rode (1725–1797),<br />
Berlin 1999<br />
Ulrike Nürnberger,<br />
Zeitenwende. Zwei Kölner Maler um 1500.<br />
Jüngerer Meister der Heiligen Sippe.<br />
Meister des Aachener Altars,<br />
Berlin 2000<br />
Hannelore Nützmann,<br />
Alltag und Feste. Florentinische Cassoneund<br />
Spallieramalerei aus der Zeit Botticellis,<br />
Berlin 2000<br />
Rainald Grosshans und Maria Reimelt,<br />
Maler des Lichts. Der Meister der Darmstädter Passion.<br />
Zur Restaurierung der Berliner Altarflügel,<br />
Berlin 2000<br />
Gefördert durch Ein Beitrag zum Jahr<br />
der Geowissenschaften
Inhaltsverzeichnis<br />
Vorworte 7<br />
Bärbel Hedinger<br />
Wirklichkeit und Erfindung in der <strong>holländische</strong>n<br />
Landschaftsmalerei 11<br />
Franz Ossing, Jörg F. W. Negendank, Rolf Emmermann<br />
Wie entsteht Landschaft? 26<br />
Franz Ossing<br />
Der unvollständige Himmel –<br />
Zur Wolkendarstellung der <strong>holländische</strong>n Meister<br />
des 17. Jahrhunderts 41<br />
Jörg F. W. Negendank, Cathrin Brüchmann,<br />
Ulrike Kienel<br />
<strong>Die</strong> „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“ und ihre Abbildung<br />
im Klimaarchiv Binnensee 55<br />
Michael Budde<br />
Eisvergnügen und andere Lebenswirklichkeiten –<br />
Bedeutungsebenen <strong>holländische</strong>r Winterlandschaften 64<br />
Zusammenfassung/Summary 86<br />
Anhang<br />
Künstlerverzeichnis 88<br />
Literaturverzeichnis 89<br />
Abbildungsnachweis 92
Dem Anschein nach waren die Holländer des 17. Jahrhunderts<br />
begeisterte Schlittschuhläufer. Auf den Winterbildern<br />
der Zeit geben sich Arm und Reich, Jung und Alt, Anfänger<br />
und Fortgeschrittene diesem Vergnügen hin. Spaziergänger,<br />
Schlittenfahrer und Fischer vervollständigen das abwechslungsreiche<br />
Treiben auf den vereisten Grachten, Flußläufen<br />
oder Binnenmeeren des Landes. Dabei wirkt mancher der winterlichen<br />
Naturschauplätze figürlich derart dicht besetzt, dass<br />
der Eindruck entsteht, als habe sich dort ein ganzes Volk versammelt<br />
- trotz klirrenden Frostes! <strong>Die</strong> kalte Jahreszeit hat damals<br />
Gefallen gefunden, jedenfalls unter dem Aspekt ihrer<br />
Freizeitmöglichkeiten. <strong>Die</strong> <strong>holländische</strong> Sommerlandschaft ist<br />
dagegen um vieles zurückhaltender staffiert. <strong>Die</strong> wärmeren<br />
Jahreszeiten bezeichnen die Wachstumsphase der Natur, die<br />
mit Arbeit, d.h. mit bäuerlichen Aktivitäten, verbunden ist. Es<br />
wird auch viel gereist. Wanderer und Reisewagen verkehren<br />
auf sandigen Wegen, die sich in kurvigem Verlauf in der<br />
Tiefe des Landes verlieren. Spezifisch sommerliche Vergnügungen,<br />
etwa Badefreuden, sind dagegen nur ausnahmsweise<br />
veranschaulicht worden. Dem immer wieder dargestellten<br />
Schlittschuhläufer ist im Wechsel der Jahreszeiten kein<br />
Gegenstück zuzuordnen. Mit anderen Worten: <strong>Die</strong> Holländer<br />
des 17. Jahrhunderts dürften keine begeisterten Schwimmer<br />
gewesen sein.<br />
In der Staffierung von Winterbild und Sommerbild lebt zwar<br />
das 16. Jahrhundert mit seinen unterschiedlichen Traditionssträngen<br />
fort, aber die beiden Aufgabenbereiche sind zugleich<br />
auch aus streng wirklichkeitsbezogener Sicht aufgenommen:<br />
mehr noch im Detail als im Ganzen. Wären Badende<br />
in realiter typisch für den <strong>holländische</strong>n Sommer jener Tage<br />
gewesen, sie hätten zweifellos als Staffage in Schilderungen<br />
dieser Jahreszeit eine Rolle gespielt. Sollte das Baden damals<br />
alles andere als ein Vergnügen gewesen sein? Waren die<br />
<strong>holländische</strong>n Gewässer bzw. Sommer kälter als heute? <strong>Die</strong><br />
historische Klimaforschung bejaht diese Frage und hat für die<br />
nördliche Erdhalbkugel eine „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“ konstatiert, die<br />
vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
angedauert hat. Den naturwissenschaftlichen Befund<br />
im Blick stellt sich einmal mehr die Frage nach dem Realitätsgehalt<br />
der <strong>holländische</strong>n Landschaftsmalerei, dem diese<br />
Veröffentlichung und die Ausstellung in einem neuen, interdisziplinären<br />
Ansatz nachzugehen versucht.<br />
Dem GeoForschungsZentrum Potsdam (<strong>GFZ</strong>) und dessen Vorstandsvorsitzenden<br />
Rolf Emmermann bin ich für die aktive Mitarbeit<br />
an diesem Projekt zu besonderem Dank verpflichtet.<br />
Vorwort<br />
Danken darf ich auch Franz Ossing, Referent für Öffentlichkeitsarbeit<br />
am <strong>GFZ</strong>, der das Vorhaben in spontaner Begeisterung<br />
für die fachübergreifende Kooperation zwischen Geistesund<br />
Naturwissenschaften mit initiiert und mit betreut hat. Jörg<br />
F. W. Negendank sowie Cathrin Brüchmann und Ulrike<br />
Kienel, die mit Charme und kritischem Verständnis für die<br />
Sache den Chor der Geowissenschaftler vervollständigen,<br />
haben ebenfalls mit wichtigen Beiträgen zur vorliegenden<br />
Publikation beigetragen, die zur kunsthistorischen Fragestellung<br />
nicht nur die geowissenschaftlichen Befunde bereitstellt,<br />
sondern zugleich auch Verfahrensmethoden aufzeigt.<br />
Den kunsthistorischen Part an der „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“ hat<br />
dankenswerter Weise Bärbel Hedinger übernommen. Neben<br />
ihrer eigentlichen Aufgabe, der Leitung der Gemälde- und<br />
Graphikabteilung des Altonaer Museums sowie der Leitung<br />
des Jenisch Hauses in Hamburg, hat sie viel Zeit und Mühen,<br />
viel Erfahrung und Wissen in das Projekt investiert. Umsonst<br />
war ihr Einsatz nicht! Denn nach Abschluss der Berliner Phase<br />
der Ausstellung wird diese Anfang des kommenden Jahres<br />
in Hamburg zu sehen sein.<br />
Der Mann „vor Ort und letztlich für alles“ war Michael Budde,<br />
wissenschaftlicher Museumsassistent an der Gemäldegalerie.<br />
Er hat diese Veröffentlichung redaktionell bearbeitet und ist in<br />
ihr mit einem Artikel über die ausgestellten Gemälde und über<br />
Aspekte der Entwicklung des <strong>holländische</strong>n Winterbildes vertreten.<br />
Auch dem Aufbau der Ausstellung, der praktischen<br />
Seite des Vorhabens, hat er sich mit Tatkraft, ausgeprägtem<br />
Geschmacksempfinden und großem Talent für die Bewältigung<br />
organisatorischer und administrativer Aufgaben gewidmet.<br />
Hierbei haben ihn die Praktikanten Eva-Andrea<br />
Schmitt, Ulrike Sbresny, Ruth Müller und Florian Seedorf<br />
unterstützt, auch Christine Exler, Sabine Friedrich, Manfred<br />
Stahr und Peter Scheel von der Depotverwaltung der Gemäldegalerie.<br />
Für die Bereitstellung von Leihgaben für die Ausstellung<br />
bin ich privaten Sammlern zu Dank verpflichtet, ferner<br />
auch Alexander Dückers, dem Direktor des Kupferstichkabinetts<br />
der Staatlichen Museen zu Berlin. Nicht allen Kolleginnen und<br />
Kollegen, die zum Gelingen des Projektes beigetragen haben,<br />
kann hier gedankt werden. Nicht unerwähnt bleiben sollte<br />
jedoch zum Schluss die nicht unerhebliche finanzielle Zuwendung,<br />
die mit Unterstützung durch Sonja Brandt-Michael vom<br />
Lenkungsausschuss der Initiative „Wissenschaft im Dialog“ für<br />
die Drucklegung dieser Publikation zur Verfügung gestellt wurde.<br />
Jan Kelch<br />
7
Unsere Erde ist ein dynamischer Planet, der sich – angetrieben<br />
durchgroßräumige Stoff- und Energieumlagerungen in seinem<br />
Inneren und vielfältige Einwirkungen von außen – in einem<br />
ständigen Wandel befindet. Es hat sich deshalb die Erkenntnis<br />
durchgesetzt, dass wir den Lebensraum Erde nur verstehen,<br />
wenn wir die Erde als System betrachten, d.h. im<br />
Zusammenwirken aller ihrer Komponenten – der Geosphäre,<br />
der Atmosphäre, der Hydrosphäre, der Kryosphäre und der<br />
Biosphäre. <strong>Die</strong>ser Forschungsansatz wird am GeoForschungs-<br />
Zentrum Potsdam (<strong>GFZ</strong>) verfolgt.<br />
Das „System Erde“ zeichnet sich durch eine hohe Komplexität<br />
aus. Prozesse, die in und auf der Erde ablaufen, sind miteinander<br />
gekoppelt und bilden verzweigte Ursache-Wirkung-<br />
Ketten, die durch den Eingriff des Menschen in natürliche<br />
Gleichgewichte und Kreisläufe zusätzlich beeinflusst werden<br />
kön-nen. Nur eine multidisziplinäre Herangehensweise ermöglicht<br />
daher eine umfassende Einsicht in die Funktionsweise<br />
des Systems Erde.<br />
<strong>Die</strong> moderne Klimaforschung ist ein gutes Beispiel für einen<br />
derartigen fachübergreifenden Ansatz. Mit vielfältigen<br />
Methoden und durch Modellierungen versuchen Klimatologen<br />
weltweit, das Klimageschehen zu verstehen. <strong>Die</strong> Atmosphärenphysiker<br />
und Meteorologen werden dabei seit geraumer<br />
Zeit von Geowissenschaftlern unterstützt. Im geologischen<br />
Klimaarchiv von Sedimenten in kontinentalen Seen<br />
Klima und das System Erde<br />
finden sich Ablagerungen, die Aufschluss geben über die<br />
Klimageschichte und den Einfluss von Klimaänderungen auf<br />
die Umwelt während der vergangenenen hunderttausend<br />
Jahre; zugleich verfügen wir damit über hochauflösende<br />
Proxydaten zum Verständnis von kurzfristigen Klimavariationen<br />
in geschichtlicher Zeit. <strong>Die</strong> Umwandlung eines Teils der<br />
Biosphäre, hier der Algen, in Sedimentablagerung, also einen<br />
Bestandteil der Geosphäre, zeigt exemplarisch die Wechselwirkung<br />
der Subsysteme des Systems Erde. So gesehen, steht<br />
die Klimaforschung am <strong>GFZ</strong> Potsdam genau auf der Nahtstelle<br />
zwischen Geosphäre, Atmo- und Biosphäre. Unser Beitrag<br />
zur Ausstellung „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“ im „Jahr der Lebenswissenschaften”<br />
2001 kann damit auch verstanden werden als<br />
Brücke zum „Jahr der Geowissenschaften“ 2002.<br />
<strong>Die</strong> Ausstellung zeigt nicht nur die engen Wechselwirkungen<br />
im System Erde. <strong>Die</strong> Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft<br />
gibt beiden Seiten Anstöße zum Verständnis unseres<br />
Lebensraums. <strong>Die</strong> historische Klimaforschung lernt aus den<br />
Gemälden wie die Kunstgeschichte aus der historischen<br />
Klimaforschung. <strong>Die</strong>ses geht selbstverständlich nicht in einer<br />
unkritischen Adaption, sondern nur im kritischen Diskurs –<br />
auch dieses ist ein Ziel der Ausstellung.<br />
Rolf Emmermann<br />
Vorstandsvorsitzender des GeoForschungsZentrums Potsdam<br />
9
Wirklichkeit und Erfindung in der <strong>holländische</strong>n Landschaftsmalerei<br />
„Ich glaube, daß alle Bilder der alten Meister, die<br />
Freilichtszenen darstellen, in Innenräumen gemalt sind,<br />
denn sie scheinen mir nicht den wahren und vor allem<br />
ursprünglichen Aspekt zu haben, den die Natur vermittelt.“<br />
Paul Cézanne an Emile Zola, Brief vom 19. Oktober 1866<br />
Seit alters verbindet sich die Vorstellung eines realistischen<br />
Landschaftsbildes mit der <strong>holländische</strong>n Malerei des 17. Jahrhunderts.<br />
Lange Zeit galten die Gemälde der van Goyen,<br />
Rembrandt, Vermeer oder Ruisdael als Paradigmen der Gattung:<br />
<strong>Die</strong> Genauigkeit der Beobachtung von Wolken, Wind<br />
und Wetter, die naturalistische Schilderung von Landschaftsund<br />
Stadtformationen sowie die Liebe zur Ausschmückung mit<br />
Details begründeten diese Einstellung ganz wesentlich. Bis<br />
heute scheint die berühmte Formulierung, die der Wiederentdecker<br />
der <strong>holländische</strong>n Malerei, Eugène Fromentin, 1876<br />
prägte, nachzuwirken, die Maler hätten nämlich des Landes<br />
„eigenes Porträt“ gemalt und ein vollendetes „Repertorium<br />
des <strong>holländische</strong>n Lebens“ hinterlassen 1 . Dass jedoch die<br />
Landschaftsgemälde nicht mit einer Bestandsaufnahme der Topographie<br />
zu verwechseln sind, hat die kunsthistorische Forschung<br />
in den letzten Jahrzehnten durch zahlreiche Studien<br />
belegt. Der vermeintliche Naturalismus oder gar Realismus<br />
der Darstellungen ist in vieler Hinsicht ein idealisierender,<br />
poetischer Realismus, der Erfahrungstatsachen mit Erfindungen<br />
überformt und künstlerisch beglaubigt. <strong>Die</strong> Frage, wie<br />
und warum sich diese Verschränkung von empirisch getreuen<br />
Einzelbeobachtungen und Strategien der ästhetisch-symbolischen<br />
Überhöhung in den einzelnen Bildern vollzieht, soll<br />
nachfolgend anhand einiger Gemälde beantwortet werden.<br />
<strong>Die</strong> <strong>holländische</strong> Landschaftsmalerei steht in der Tradition der<br />
altniederländischen und insbesondere der flämischen Malerei<br />
des 16. Jahrhunderts, deren Entwicklung in einem Zweischritt<br />
von der symbolischen Weltlandschaft eines Joachim Patenier<br />
oder Herri Bles über die Jahreszeitenbilder eines Pieter Bruegel<br />
zur <strong>holländische</strong>n Position des 17. Jahrhunderts führte.<br />
Entscheidend ist dafür der Fortschritt in der Darstellungsweise,<br />
der mit den Gemälden Bruegels einhergeht. Er verstand es,<br />
Landschaft nicht nur als beobachtete Topographie, sondern<br />
als erlebte Jahreszeit zu schildern 2 . Damit ging seine Aufmerksamkeit<br />
für atmosphärische Wettererscheinungen einher.<br />
Bruegel vermochte z.B. die dunstige Luft des Winters gegenüber<br />
anderen Wettererscheinungen deutlich zu differenzieren.<br />
Ihm gelang es, Schneefall, Herbststürme oder die sengende<br />
Hitze des Hochsommers bildlich zu vermitteln, ein Umstand,<br />
der schon seine Zeitgenossen zu dem Lob veranlasste,<br />
der Maler könne darstellen, was eigentlich gar nicht darstellbar<br />
sei. In gewissem Sinn lässt sich durchaus behaupten, mit<br />
der Kunst Bruegels sei bereits in darstellerischer Hinsicht ein<br />
Bärbel Hedinger<br />
Höhepunkt erreicht, an den die <strong>holländische</strong> Malerei des<br />
17. Jahrhundert nur mehr anschließen musste: Viele Bilderfindungen<br />
des Flamen wurden einfach fortgeführt. <strong>Die</strong> Entwicklung<br />
hin zum 17. Jahrhundert wird man demnach nicht als entscheidenden<br />
Sprung im Sinne des Fortschritts, sondern als<br />
einen Prozess zunehmender Differenzierung ansehen können.<br />
Das Fach der Landschaftsmalerei bildet sich nach und nach<br />
heraus und immer häufiger finden sich Experten für eine bestimmte<br />
Sparte des Landschaftsbildes: <strong>Die</strong> Landschaftsmalerei<br />
wird zu einer nachgefragten Gattung.<br />
Dabei geht die Tendenz zur symbolischen Überhöhung und<br />
allegorischen Durchdringung nur auf den ersten Blick verloren.<br />
Wo Bruegel noch ikonographisch explizit Bezug nimmt<br />
auf eine höhere, christliche Weltsicht, verbinden sich in der<br />
<strong>holländische</strong>n Landschaftsmalerei mit der Naturschilderung<br />
auch fernerhin „hintergründige Botschaften“ 3 . <strong>Die</strong> Landschaften<br />
lassen sich emblematisch und politisch 4 ansehen, sie handeln<br />
von patriotischem Stolz und religiösen Tugenden. Realistisch<br />
im Sinne der Wirklichkeitsdarstellung sind daher häufig<br />
einzelne Partien und Details, kaum je aber ist es das<br />
Gesamtbild.<br />
Das Interesse an der Darstellung der eigenen Region erwachte<br />
parallel zum wirtschaftlichen und politischen Aufschwung<br />
der jungen Republik Holland, die sich im Widerstand gegen<br />
die spanische Besatzungsmacht zum Staat der Sieben Provinzen<br />
zusammengeschlossen hatte. Für die Jahre 1609 bis<br />
1621 hatten die Holländer einen Waffenstillstand mit den<br />
Spaniern ausgehandelt. <strong>Die</strong>se zwölfjährige Phase des Friedens<br />
wurde für den Ausbau von Handel, Infrastruktur und<br />
Militär genutzt und ließ die neue Republik innerhalb weniger<br />
Jahre zur ersten Wirtschaftsmacht Europas aufsteigen. <strong>Die</strong><br />
politische, wirtschaftliche und kulturelle Freiheit prägte das<br />
nationale Selbstbewusstsein.<br />
<strong>Die</strong>sen Prozess der Verselbständigung und Selbstvergewisserung<br />
begleiten die Landschafts- und Genredarstellungen, die<br />
in den Jahrzehnten bis 1670, dem Ende des Goldenen Zeitalters,<br />
entstehen. Es galt ein Selbstbild von Land und Leuten zu<br />
entwerfen, und insbesondere der Malerei kam dieser „vaterländische<br />
<strong>Die</strong>nst“ zu. <strong>Die</strong> Erkundung der Topographie und<br />
Geographie und die kartographische Aufzeichnung dieser<br />
Kenntnisse, die zum einen aus kriegstechnischen, zum anderen<br />
aus handelsökonomischen Gründen forciert wurden, fundieren<br />
und begleiten als objektive Bestrebungen die künstlerisch<br />
subjektiven Aufzeichnungen der Maler. Auf der Suche<br />
nach dem realistischen, d.h. topographisch exakten Bild der<br />
<strong>holländische</strong>n Landschaft wird man sich eher an die reüssierenden<br />
Kartographen und Vedutenzeichner mit ihrer camera<br />
obscura-Technik zu halten haben denn an die Landschafter.<br />
Während die Geodäten mit Jacobsstab und Messketten durch<br />
die Lande zogen, visierten die Maler allenfalls mit dem<br />
11
1 Adriaen Pietersz van de Venne<br />
1589 Delft – 1662 Den Haag<br />
Der Sommer<br />
1614<br />
12<br />
Eichenholz, 44,1 x 67,1 cm<br />
Bez. Mitte unten: Av VeNNe 1614 (Av verbunden)<br />
Erworben 1874<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 741A
2 Adriaen Pietersz van de Venne<br />
1589 Delft – 1662 Den Haag<br />
Der Winter<br />
1614<br />
Eichenholz, 44,2 x 69,1 cm<br />
Bez. rechts unten: Av VeNNe 1614 (Av verbunden)<br />
Erworben 1874<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 741B<br />
13
Daumen. Kartographie und Landschaftsmalerei lassen sich insofern<br />
als zwei sehr unterschiedlich ausgeprägte Seiten einer<br />
Medaille, dem Interesse an der umgebenden zu vermessenden<br />
bzw. aufzuzeichnenden Natur, begreifen. 5<br />
Beiden Gattungen gemeinsam ist überdies die Auffassung der<br />
Landschaft als Ort und Rahmen von Geschichte. Beide Formen<br />
der Darstellung tragen vielfach patriotischen Stolz zur Schau,<br />
indem sie mit dem markanten Bild auch das Lob der Landschaft<br />
verbinden. Häufig handelt es sich bei den Gemälden<br />
weniger um topographische denn um politische Landschaften,<br />
in denen Aspekte der vaterländischen Gegenwart und Geschichte<br />
aufgehoben sind. Einige Stufen der Herausbildung<br />
und Wandlung der <strong>holländische</strong>n Landschaftsmalerei im angesprochenen<br />
Sinne repräsentieren die folgenden Gemälde.<br />
Von der Allegorie zur Landschaft<br />
In Adriaen van de Vennes (1589-1662) Gemälde „Der Winter“<br />
aus dem Jahr 1614 (Abb. 2) geht es „typisch holländisch“<br />
zu. Auf einem zugefrorenen Gewässer tummelt sich eine bunt<br />
gemischte Gesellschaft. Das Bild hält die Mitte zwischen einer<br />
Genre- und einer Landschaftsdarstellung. Jung und Alt, Bürger<br />
und Bauern geben sich auf dem spiegelglatten Eis ein Stelldichein.<br />
Bis tief in den Hintergrund zieht sich die Promenade<br />
der Eisgänger hin. Hinter kahlen Bäumen sind links und rechts<br />
am Ufer verschneite Dörfer auszumachen. Ganz im Hintergrund,<br />
fast im Zentrum, ist eine Mühle platziert. Den eigentlichen<br />
Mittelpunkt jedoch bildet im Schnittpunkt der Diagonalen<br />
ein reich beflaggter Eisschlitten unter Segeln. Kaum zufällig<br />
ragt unüberschnitten die <strong>holländische</strong> Flagge direkt über dem<br />
Horizont auf. Sie kündet als Pointe neben den zur Schau gestellten<br />
Kostümen und Trachten der Spaziergänger und Schlittschuhläufer<br />
eindeutig von dem Land, in dem die Szene spielt.<br />
Während die topographischen Angaben eher kürzelhaft ein<br />
dörfliches Irgendwo assoziieren lassen, kommt über wenige<br />
Anhaltspunkte, insbesondere über die Flagge der Republik,<br />
Holland ins Bild. Als „Superzeichen“ im Verein mit den anderen<br />
deutlich sprechenden Signalements bekrönt die Flagge<br />
das festliche Bild einer wohlhabenden Gesellschaft, die es<br />
sich leisten kann, an einem Sonntag dem Müßiggang zu frönen.<br />
Nur die Eisfischer sind im Vordergrund des Bildes bei der<br />
Arbeit. Im Blick aus dem Bild richten sich beide Stände, Bürger<br />
und Bauern, an den Betrachter.<br />
<strong>Die</strong> Landschaft dient als Kulisse; als geographische Kennzeichen<br />
fungieren die Wasserfläche, die Mühle und der hohe<br />
Himmel. <strong>Die</strong> Winterlandschaft wird bald zu einem Topos der<br />
<strong>holländische</strong>n Landschaftsmalerei und steht als besonderes<br />
Fach per se bereit. Der Realismus des Bildes trägt abstrakte<br />
Züge. Typisches wird auf einen Nenner gebracht, der sich in<br />
der rot/weiß/blauen Schlittenfahne sprechend zeigt. Wollte<br />
man weitergehen und eine politische Allegorie in dieser Darstellung<br />
sehen, so wäre insbesondere auf das harmonische<br />
Miteinander der Stände und auf den Wohlstand zu verweisen.<br />
Dem Winter auf dem Eis stellt van de Venne den Sommer auf<br />
dem Felde (Abb. 1) als Jahreszeitenpendant gegenüber. Als<br />
erstes fällt, gegen den Horizont gegeben, die Architektur<br />
einer Kornwindmühle am rechten Bildrand ins Auge. Am Ho-<br />
14<br />
rizont markieren Kirchturmspitzen dörfliche Siedlungen und<br />
im Mittelgrund taucht, jenseits des Flusses, der das Bild durchzieht,<br />
eine Bauernkate auf. <strong>Die</strong> vielfigurige Szene im Vordergrund<br />
spielt an einem Weiher, den eben ein Packwagen in<br />
Richtung auf den Betrachter zu durchquert. Ein Bettler hat sich<br />
dem Wagen genähert. Rings um diese Haupterzählung sind<br />
Nebenszenen rahmend angeführt; sie handeln von Jägern<br />
links und einem streitenden Paar rechts. Offenbar geht es dort<br />
um einen herabgefallenen Eierkorb, dessen Inhalt zu Bruch<br />
gegangen ist. Am Fuß der Mühle besieht ein Mann neben einem<br />
Leiterwagen die Streithähne. Eben ist ein anderer, mit<br />
einem Mehlsack bepackter Mann dabei, die Böschung herabzusteigen.<br />
Das Bild trägt ernste und komische Züge. <strong>Die</strong> Genreszenen<br />
sind in die Muldenlandschaft des Vordergrundes eingebettet<br />
und werden über Staffagefiguren bis in den Mittelgrund hinein<br />
fortgeführt. <strong>Die</strong> Szene spielt wieder in Holland, das weist<br />
in erster Linie die Mühle aus. Im übrigen lehnt sich van de Venne<br />
in seiner Komposition an eine Bildvorlage Jan Bruegels<br />
vom Ende des 16. Jahrhunderts an. 6 Auch die Übernahme des<br />
Bildmusters der Jahreszeitendarstellung ist noch ganz dem<br />
16. Jahrhundert verpflichtet. In der damaligen Vorstellungswelt<br />
spielte der Wechsel der Jahreszeiten und ihre regelmäßige<br />
Wiederkehr eine große Rolle und wurde als Symbol für<br />
den Lauf der Zeit und den Kreislauf von Werden und Vergehen<br />
verstanden. Solche Jahreszeitenallegorien waren in Malerei<br />
und Graphik noch bis ins 17. Jahrhundert hinein sehr<br />
populär. 7<br />
Aber trotz aller Rückversicherungen auf die Tradition gelingt<br />
es van de Venne, sein Landschaftspendant über die allgemeinen<br />
stilistischen Gründzüge der Komposition, die Wahl der<br />
Kostüme, die Gemeinschaft der Stände, die Nationalflagge<br />
erkennbar in der Republik Holland und in den Jahren des<br />
Waffenstillstands anzusiedeln; einen spezifischen Ort beschreibt<br />
er nicht, er begnügt sich vielmehr wieder mit einer<br />
aus Versatzstücken gefügten Landschaft: „Topoigraphie“ statt<br />
Topographie.<br />
Plausible Fiktionen<br />
Im Gegensatz zu van de Venne wandte sich der in Haarlem<br />
tätige Esaias van de Velde (um 1590/91–1630) ohne allegorische<br />
oder sonstige Umschweife direkt der <strong>holländische</strong>n<br />
Topographie zu. 1618 nahm er die am seeländischen<br />
Wattenmeer gelegene kleine Handelsstadt Zierikzee zum Vorwurf<br />
für ein Gemälde (Abb. 3).<br />
Der Blick geht über Repoussoirfiguren im Vordergrund über<br />
das Wasser auf das jenseitige Ufer und über die befestigte<br />
Stadtmauer hin zur breitgelagerten Panoramakulisse der<br />
Stadt. Als deren charakteristisches Wahrzeichen ragt der Bau<br />
der Nieuwe Kerk auf. <strong>Die</strong> Kirchenarchitektur wird geradezu<br />
übermächtig inszeniert, als solle die Stadt sich auf den allerersten<br />
Blick zu erkennen geben. Der mit der Topographie Vertraute<br />
wird links das Sint-Lievensmunstertoren, neben der<br />
Nieuwe Kirk, in der Mitte des Bildes, das Rathaus und weiter<br />
rechts die Gasthuiskerk und einige weitere Kirchen ausgemacht<br />
haben. 8
3 Esaias van de Velde<br />
Um 1590/91 Amsterdam – 1630 Den Haag<br />
Ansicht von Zierikzee<br />
1618<br />
Lw., 27 x 40 cm<br />
Bez. links unten: E.V.VELDE. 1618<br />
Erworben 1925<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 1952<br />
15
<strong>Die</strong> geschlossene Silhouette präsentiert die Stadt als Gemeinwesen.<br />
Der niedrig liegende Horizont lässt die Architektur<br />
hoch aufragen und als prägnante Vedute in Erscheinung treten.<br />
Der Maler zieht gewissermaßen eine „Heimat-Linie“ aus,<br />
die sich vor winterlichem Himmel abzeichnet. Das malerische<br />
Echo dieser Linie begegnet in abgeschwächter Form im Spiegelbild,<br />
das die ruhige Wasserfläche zurückwirft. <strong>Die</strong> aufgereihten<br />
Monumente spiegeln die weltliche und kirchliche Macht<br />
des Gemeinwesens; sie verweisen auf die Geschichte, die Errungenschaften<br />
der Baukunst und die Schönheit des Landes.<br />
Van de Velde gehört zu den Erfindern unter seinen Künstlerkollegen.<br />
Mit dem Zierikzee-Gemälde stellt er ein Bild-Schema<br />
auf, das auch weiterhin in der Landschaftsmalerei Geltung behalten<br />
wird: <strong>Die</strong> bildparallele Anlage der Komposition, die<br />
Dreiteilung des Bildraums (Fluss, Stadt, Himmel) und die Absenkung<br />
der Horizontlinie, die dem Wolkenhimmel großzügig<br />
Bildraum gewährt. Auch die Farbpalette in gedämpften Tönen,<br />
die zwischen Braun, Grün und Blau changieren, hat<br />
Schule gemacht und wurde zum Abzeichen der prosaischen,<br />
alltäglichen, ungestelzten <strong>holländische</strong>n Landschaft. 9 All dies<br />
hat dem Maler den Ruf eingetragen, der erste Realist in seinem<br />
Fach gewesen zu sein. Aber trotz der Naturnähe treten<br />
auch seine Landschaften nicht als exakte Reportagen auf: sie<br />
sind vielmehr ausbalancierte Darstellungen zwischen Tatsachenschilderung<br />
und Erfindung. 10<br />
Das Zeichnen nach der Natur wurde in zeitgenössischen Malerhandbüchern<br />
nachdrücklich empfohlen, so in Karel van<br />
Manders „Den Grondt der edel vry schilderconst“ (1603)<br />
oder Samuel van Hoogstraatens „Inleyding tot de hooge<br />
schoole der schilderconst“(1678) 11 . <strong>Die</strong> Natur zu beobachten,<br />
ihren Reichtum und ihre Vielfalt sorgsam zu studieren und mit<br />
Feder oder Kreidestift im Skizzenbuch festzuhalten, kurz,<br />
„naer het leven“ (nach dem Leben) vorzugehen, gibt Hoogstraaten<br />
der „schilderjeugt“ (dem Malernachwuchs) mit auf<br />
den Weg. 12 Inwieweit diese Skizzen später als Hilfsmittel in<br />
die Gemäldekompositionen eingegangen sind, ist allerdings<br />
ungeklärt. <strong>Die</strong> Maßgabe einer realistischen Wiedergabe der<br />
Natur war kein Qualitätsanspruch, den das 17. Jahrhundert<br />
kannte oder erhob. Den Zeitgenossen galt jenes Landschaftsgemälde<br />
als gelungen, das bloß den Eindruck erweckte, ganz<br />
und gar nach dem Leben entstanden zu sein, wobei dieser<br />
Effekt aber durchaus synthetisch herzustellen war. Der Hand,<br />
der Fertigkeit, dem Geschick und der Phantasie des Malers<br />
war es überlassen, über Motiv, Komposition, Farbe zu bestimmen,<br />
Form und Stil so festzulegen, dass jedenfalls ein der<br />
Wirklichkeit nicht widersprechendes Bild entstehen konnte.<br />
Der Maler fungiert als letzte Instanz und als Schöpfer „plausibler<br />
Fiktionen“ 13 , wie es bei Peter Sutton heißt.<br />
Gelegentlich haben sich die Künstler sogar eines „Kopierverfahrens“<br />
bedient, das hier als weiterer Hinweis auf die synthetischen<br />
Kompositionsmethoden, die in der Frühzeit der<br />
Landschaftsmalerei gang und gäbe waren, angeführt sei: so<br />
weiß man, dass Tobias Verhaecht (1561–1630) seinem<br />
Gemälde „Landschaft mit der Flucht nach Ägypten“ die<br />
1555/57 entstandene Radierung von Pieter Bruegel d.Ä.<br />
„Große Alpenlandschaft“ unterlegte und als „Vorzeichnung“<br />
für sein eigenes Bild benutzte. 14<br />
16<br />
Malerische Ausschnitte<br />
Jan van Goyen (1596–1656), bekannt für seine Seestücke<br />
und Naturschilderungen, erlangte seine größte Geltung als<br />
Maler des flachen Landes. In kleinen Bildformaten hielt er die<br />
alltäglichen, „armen“ Küstengegenden seiner Heimat in immer<br />
neuen Varianten fest, und entfaltete seine malerischen<br />
Talente bei der Wiedergabe von so unspektakulären Motiven<br />
wie Dünenketten, Sandwegen und Bauernkaten oder in fein<br />
abgestimmten Darstellungen von Himmel, Wetter und Atmosphäre.<br />
Er kann als einer der erfolgreichsten Landschafter seiner Zeit<br />
gelten, dem eine Gesamtproduktion von über 1200 Gemälden<br />
und rund 800 Zeichnungen zugeschrieben wird. 15 Seine<br />
Bilder waren relativ preiswert zu haben und wurden vom städtischen<br />
Publikum hoch geschätzt. Es gehörte zum Modeton,<br />
ein kleines <strong>holländische</strong>s Landschaftsbild zu besitzen und es<br />
im häuslichen oder auch öffentlichen Ambiente als Wandschmuck<br />
auszustellen. Derart ließ sich nicht nur Heimatliebe<br />
bekunden, sondern auch, qua Bildbetrachtung, Eigenheit und<br />
nationale Besonderheit der heimatlichen Landschaft ihrer Typologie<br />
nach studieren und einprägen. 16<br />
In der 1629 datierten „Dünenlandschaft“ (Abb. 4) sind die<br />
Grundzüge des neuen Holland-Bildes, das van Goyen in so<br />
großer Zahl entwarf, fast prototypisch ausgeprägt. Da ist<br />
zunächst das bescheidene Motiv eines Landweges, der sich<br />
durch sandiges Gelände zieht, vorbei an Bauernhütten und<br />
Baumgruppen, um sich auf der linken Seite in der Ferne zu<br />
verlieren. In diese Fahrstraße, die offenbar die Verkehrsverbindung<br />
von Dorf zu Dorf entlang der Dünenzone darstellt,<br />
mündet im Bildvordergrund rechts ein Schlängelweg ein, der<br />
aus dem Dünengelände kommt. Dort wo sich Fußweg und<br />
Fahrstraße treffen, warten einige Bauern; sie haben ihre Bündel<br />
geschultert oder tragen, wie die Bäuerin, ihre Last in einem<br />
Korb auf dem Kopf. Einer der Bauern hat sich auf den<br />
Weg gemacht und verschwindet zielstrebig auf dem Fußweg<br />
in die Dünen. <strong>Die</strong> kleine Gruppe der Wartenden steht im<br />
Schatten, während alles Licht am Fuß des Dünenanstiegs versammelt<br />
ist. Das Licht hat hier nichts anderes zur Geltung zu<br />
bringen als gelblich und ockerfarben aufleuchtenden Sand,<br />
einige Gräser und die kurvigen Furchen einer Wagenspur.<br />
„Konsequenter kann die Hinwendung zum eigenen Land und<br />
zur Landschaft kaum noch versinnbildlicht werden.“ 17<br />
Entworfen wird allerdings kein Bild von Land und Leuten, wie<br />
es der Wirklichkeit entsprochen hätte. Denn setzt man diese<br />
Landschaft ins Verhältnis zu den dynamischen Prozessen der<br />
wirtschaftlichen Entwicklung, wie sie sich zur Zeit der Bildentstehung<br />
ereigneten, so erscheint van Goyens Landschaft rückwärtsgewandt<br />
und nostalgisch. Ann Jensen Adams hat einen<br />
Zusammenhang hergestellt zwischen der ökonomischen Entwicklung<br />
des Landes, vor allem den Projekten der Landgewinnung,<br />
die an der <strong>holländische</strong>n Küste in den Jahren 1612 bis<br />
1635 aufgelegt wurden, und zu den im Gegensatz dazu archaisch,<br />
mittelalterlich anmutenden Dünenlandschaften, die<br />
van Goyen zur gleichen Zeit in Szene setzte. 18 Amsterdamer<br />
und Haarlemer Bürger hatten große Geldsummen in ein Landgewinnungsprojekt<br />
an der Küste zwischen Leiden, Haarlem
4 Jan van Goyen<br />
1596 Leiden – 1656 Den Haag<br />
Dünenlandschaft<br />
1629<br />
Eichenholz, 29 x 51 cm (oben geringfügig beschnitten)<br />
Bez. rechts unten: vG 1629<br />
Erworben 1821<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 865<br />
17
und Alkmaar gesteckt, das sich als höchst erfolgreich und ertragbringend<br />
erwies. Ein System von Kanälen, Drainagen und<br />
windmühlengetriebenen Pumpstationen diente der Trockenlegung<br />
der Poldergebiete, sorgte für Neuland und veränderte<br />
das Bild der Landschaft. Seedünen, vergleichbar jenen, die<br />
van Goyen in seinem Gemälde festhält, schützten das Land<br />
vor Überschwemmungen.<br />
<strong>Die</strong> Maler haben diese technischen Neuerungen in ihren Bildern<br />
noch nicht zur Kenntnis genommen. Ihnen und den Zeitgenossen<br />
allerdings hat diese Wirklichkeit vor Augen gestanden,<br />
die heute erst mühsam rekonstruiert werden muss. <strong>Die</strong><br />
Moderne und Gegenwart liegt allenfalls jenseits der Dünenketten,<br />
die van Goyen malt. Er propagiert als Maler die pittoreske<br />
Idylle aus verfallenden Gehöften und bäuerlicher Folklore.<br />
19 In diesen Wunschbildern einer älteren Zeit wurde die<br />
Historie bewahrt und das Geschichtsbewusstsein wach gehalten.<br />
Das städtische Publikum konnte sich in den Bildern seiner<br />
ländlichen Umgebung versichern, in einer Zeit, in der die<br />
Landschaft des alten Schlages allmählich verschwand. 20 Der<br />
Maler komponiert ein Sinnbild, geschaffen aus Versatzstücken<br />
(Bäumen, Bauern, Dünen) und spielt auf <strong>holländische</strong> Tugenden<br />
wie Anspruchslosigkeit, Bescheidenheit und Einfachheit an.<br />
Landschaft im Interieur<br />
Spätestens mit van Goyens populären Dünenstücken konnte<br />
die Gattung Landschaftsbild als eingeführt gelten. Der Anteil<br />
der Landschaften am allgemeinen Bilderhaushalt nahm kontinuierlich<br />
zu und drängte das Historienbild in der Käufergunst<br />
zurück. Wie Michael Montias für die Stadt Delft nachgewiesen<br />
hat, wuchs der Anteil der Landschaften von 25 Prozent<br />
zwischen 1610 und 1619 auf über 40 Prozent zwischen<br />
1670 und 1679 an. 21 <strong>Die</strong> Landschaften fanden als Wanddekorationen<br />
in privaten und öffentlichen Räumen Verwendung.<br />
<strong>Die</strong> Maler haben diese nationale Vorliebe für den Wandschmuck,<br />
die neben den Landschaften auch Wandkarten<br />
ebenso wie Porträts und religiöse und mythologische Szenen<br />
einschloss, in Gestalt des „Bild im Bild“-Motivs in ihre Gemälde<br />
aufgenommen. Das „eingeschriebene Bild“ ist ein <strong>holländische</strong>r<br />
Sonderfall. Dass über die Inszenierung dieser „Bilder<br />
in Bildern“ auch Kommentare in die Hauptszene getragen<br />
wurden, seien es nun moralisierende, allegorische oder politische<br />
Anspielungen, haben Untersuchungen der letzten Jahre<br />
vielfach zu Tage gefördert. 22<br />
Der Haarlemer Hendrick Gerritsz Pot (1585–1657) malt in<br />
die um 1635 entstandene „Fröhliche Gesellschaft“ (Abb. 5)<br />
eine kleine Galerie von Landschaftsbildern unterschiedlichen<br />
Formats und Themas hinein. <strong>Die</strong> malerische Qualität und die<br />
Präzision der Landschaftsmotive verwundert in einem Gemälde,<br />
das im übrigen nur die Stereotypen wiederholt, die die<br />
Bildgattung des Bordellbildes kennzeichnen - die rauchenden<br />
und zechenden Galane, die Kupplerin, die Frauen, die in<br />
ihrem Verhalten keinen Zweifel an der erotischen Eindeutigkeit<br />
der Szene lassen.<br />
Wolfgang Stechow sieht in den an der Wand auftauchenden<br />
Landschaftsgemälden vorrangig kompositorische Hilfen bei<br />
der Gliederung der Rückwand des Interieurs. 23 Aber man wird<br />
18<br />
diesen Wandschmuck auch als Kommentar zur Bildszene auffassen<br />
können. <strong>Die</strong> Bilder an der Wand sind <strong>holländische</strong><br />
Landschaften, hinter denen man Gemälde von Zeitgenossen,<br />
etwa eines van de Velde vermuten kann. 24 <strong>Die</strong> Landschaftsszenen<br />
trugen mit dem Bild der <strong>holländische</strong>n Heimat nicht<br />
nur die Außenwelt in die Innenräume hinein, sondern konnten<br />
auch als moralisierender Kommentar im lasterhaften Amüsierbetrieb<br />
gelesen werden: Schaute der trink- und amüsierfreudige<br />
junge Holländer in den unterhalb der Landschaftsgemälde<br />
gehängten Spiegel an der Wand, so würde er sich selbst<br />
erkennen, umgeben von heimatlichen Wald- und Wasserstücken,<br />
die (wieder) an die <strong>holländische</strong>n Tugenden erinnern<br />
– die Landschaft, eingesetzt als ein moralischer Zeigefinger,<br />
wie er in einem Lasterbild nicht fehlen durfte.<br />
Landschaften im Bild tauchen in der Malerei der ersten Jahrhunderthälfte<br />
bevorzugt bei der Darstellung von öffentlichen<br />
Räumen auf, allerdings nicht allein in zweifelhaften „bordeeltjes“,<br />
sondern ebenso in Gasthäusern oder „Musicos“.<br />
Letztere waren typisch <strong>holländische</strong>, weit über die Grenzen<br />
des Landes hinaus bekannte Musik- und Weinhäuser, die in<br />
den zwanziger Jahren in Mode kamen, als mit dem Wohlstand<br />
auch die Vergnügungslust wuchs. 25 Hier traf sich die<br />
bessergestellte Gesellschaft der jungen Republik zu Musik,<br />
Tanz und geselligem Beisammensein, das gelegentlich den<br />
Charakter eines Volksfestes im Saal annahm. Zum Wandschmuckrepertoire<br />
dieser vielbesuchten Orte gehörte wie<br />
selbstverständlich das Landschaftsbild, das häufig zusammengehängt<br />
war mit einer Wandkarte der Republik Holland (Abb.<br />
6). <strong>Die</strong> junge Republik, die sich feiernd zu Großveranstaltungen<br />
zusammenfand, wurde von Landschaften und Karten begleitet,<br />
die nicht nur als dekorativer Wandschmuck, sondern<br />
oft auch als politische Botschaft und Erinnerung an die Nation<br />
fungierten.<br />
Als die Malerei sich ab der Jahrhundertmitte von den öffentlichen<br />
Räumen ab- und verstärkt den privaten Interieurs zuwandte,<br />
trat auch eine Änderung der Wandschmuckmode zutage.<br />
Das kleinformatige Landschaftsbild, streng gerahmt in<br />
schwarzer Leiste, verschwand und machte der mittel- bis großformatigen<br />
Landschaft, bevorzugt in vergoldetem Rahmen,<br />
Platz; die Gesamtansicht verdrängte den Landschaftsausschnitt.<br />
Über das „Bild im Bild“ erfahren wir vom gediegenen<br />
Wohlstand, von gehobener Wohnkultur und gesteigertem<br />
Kunstgeschmack des <strong>holländische</strong>n Bürgertums (Abb. 7).
5 Hendrick Gerritsz Pot<br />
Vor 1585 Haarlem – 1657 Amsterdam<br />
Fröhliche Gesellschaft<br />
Um 1630/35<br />
Eichenholz, 36,5 x 54,6 cm<br />
Bez. in der Mitte am Schemel: HP (verbunden)<br />
Erworben 1875<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 1486<br />
19
6 Dirck Hals<br />
1591 Haarlem – 1656 Haarlem<br />
Lustige Gesellschaft<br />
Um 1630<br />
20<br />
Holz, 43 x 78,5 cm<br />
Nottingham, Art Gallery, Castle Museum
7 Gabriel Metsu<br />
1629 Leiden – 1667 Amsterdam<br />
Bildnis des Jan Jacobsz Hinlopen und seiner Familie<br />
Um 1662<br />
Lw., 72 x 79 cm<br />
Bez. links unten: G. Metsu<br />
Erworben 1832<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 792<br />
21
Hommage an Haarlem und Holland<br />
In seinem um 1670 entstandenen Gemälde „Haarlem von den<br />
Dünen im Nordwesten gesehen“ (Abb. 8) setzt Jacob van Ruisdael<br />
(1628/1629–1682) seiner Vaterstadt Haarlem ein<br />
Denkmal. Das Gemälde gehört in eine Reihe von acht weiteren<br />
Ansichten der Stadt, 26 die in die Jahre 1670 bis 1676 datiert<br />
werden, und unter der Bezeichnung „Haarlempjes“ in die<br />
Kunstgeschichte eingegangen sind. Dort werden sie als einer<br />
der Höhepunkte der <strong>holländische</strong>n Landschaftsmalerei des<br />
17. Jahrhunderts gewürdigt.<br />
Entwicklungsgeschichtlich gesehen war die <strong>holländische</strong> Malerei<br />
in den 1670er Jahren auf ihrem Kulminationspunkt angelangt,<br />
und sollte nur wenig später zunehmend unter den<br />
Einfluß der französischen Hofkunst geraten und ihre Vorrangstellung<br />
verlieren. <strong>Die</strong>sen Wendepunkt der Epoche scheint der<br />
Maler Ruisdael aufzugreifen, wenn er in seinem Haarlem-<br />
Gemälde alles an Motiven und Kompositionstechniken aufbietet,<br />
was die <strong>holländische</strong> „schilderconst“ bis dato zum<br />
Thema Landschaftsbild entwickelt hat. Da ist zunächst das Panorama,<br />
in dem sich der Wunsch nach übergreifendem Überblick<br />
artikuliert. Es folgt die ins Auge fallende, herausragende<br />
Darstellung des lokalen Gewerbes (Vordergrund), der Mühlen<br />
(Mittelgrund) und der Stadtarchitektur (Hintergrund). Der opulente<br />
Wolkenhimmel fehlt ebensowenig wie die versteckte emblematische<br />
Anspielung. Auch die Wiederholung des Themas,<br />
bei jeweils geringfügig neuer Gestaltung des Bildvordergrundes,<br />
lässt auf große Nachfrage schließen. Den angesprochenen<br />
Einzelaspekten soll im folgenden nachgegangen werden,<br />
um die These vom nationalen „Programmbild“ zu untermauern.<br />
Von dem erhöhten Standpunkt einer grasbewachsenen Düne<br />
aus eröffnet sich ein Panorama- und Fernblick von beeindruckender<br />
Vielfalt und Tiefe. Am Fuß der Dünenkette liegt das<br />
Dorf Overveen, auf dessen terrassenartig angelegten und von<br />
Bäumen und Büschen gesäumten Wiesen man lange Stoffbahnen<br />
zum Bleichen ausgelegt hat. Solche Bleichwiesen, mit<br />
angeschlossener kleiner Gewerbeansiedlung, waren ein vertrauter<br />
Anblick im Weichbild der Stadt Haarlem. Das Bleichen<br />
von einheimischem Leinen sowie von den aus England,<br />
Deutschland und den Ostsee-Anrainerstaaten importierten<br />
Baumwollstoffen war einer der wichtigsten Wirtschaftszweige<br />
der Stadt. Man machte sich das reine Quellwasser, das am<br />
Dünenrand entsprang, zunutze, um die Stoffe im Sonnenlicht<br />
zu bleichen. 27 Ruisdael schildert die weißen Stoffbahnen<br />
ebenso wie die weißgekleideten Mägde unter ihren großen<br />
Strohhüten, die zwischen den ausgelegten Tüchern ihrer Arbeit<br />
des Befeuchtens und Glättens nachgehen, mit malerischer<br />
Akribie. Er lenkt das Sonnenlicht auf eine der Bleichen, um die<br />
Produkte des örtlichen Gewerbes ins rechte Licht zu setzen.<br />
Darstellungen von Arbeit oder von Gewerbe gehörten nicht<br />
ins Repertoire der <strong>holländische</strong>n Malerei des 17. Jahrhunderts,<br />
28 so dass Ruisdaels Darstellung der Wäschebleichen zu<br />
den Ausnahmen rechnet. Er misst dem Sujet große Bedeutung<br />
zu, indem er es an zentraler Stelle in den Vordergrund rückt<br />
und darüber hinaus in seinen acht Gemäldevarianten jeweils<br />
einen anderen Ausschnitt der Bleichwiesen, der weißen<br />
Stoffe, der Arbeiterinnen im Bildvordergrund schildert.<br />
22<br />
Den Mittelgrund des Bildes nimmt eine breite Freifläche ein,<br />
ein begrüntes, von Bäumen gesäumtes Feld. Auf dem ansteigenden<br />
Gelände dahinter reihen sich sechs Bockwindmühlen,<br />
einige von ihnen mit Flügeln, die in den Wind gedreht sind.<br />
Deren Vorhandensein in größerer Zahl gibt Kunde vom tätigen,<br />
regen Handwerk und vom Florieren der Geschäfte. Hinter<br />
der Mühlenzone erhebt sich die Stadt mit ihren Wohnhäusern<br />
und Kirchen. Ihre Silhouette wird bestimmt durch den<br />
mächtigen Bau der Sint Bavo Kerk, dem sich links der Turm der<br />
Bakenesser Kirche, rechts der Nieuwen Kerk anschließt. 29 Mit<br />
den Kirchen, die die Stadtarchitektur von Haarlem prägen und<br />
dessen historische Bedeutung vor Augen stellen, und mit den<br />
Windmühlen, die als Abzeichen <strong>holländische</strong>r Identität gelten,<br />
ruft Ruisdael ein Bildschema auf, das schon Esaias van de<br />
Velde fünf Jahrzehnte zuvor zum Lob der Stadt Zierikzee entworfen<br />
hatte. Ruisdael erweitert das Schema um die Vordergrundszene.<br />
Zur mächtigen Stadt am Horizont gehört die Vorstadt,<br />
wo Gewerbefleiß und <strong>holländische</strong> Tugenden angesiedelt<br />
sind. Welchen Tätigkeiten die Bürger im entfernten<br />
Haarlem nachgehen, erfahren wir nicht, wie sie ihre Tage in<br />
Overveen gestalten, verrät uns nahsichtig der Maler. Dank<br />
der fein gemalten Binnenstruktur vermag das Auge den Wagenspuren<br />
auf dem Sandweg im Vordergrund zu folgen und<br />
der Frau mit Kind und Hündchen, die wohl eine Magd darstellt,<br />
die von der Arbeit auf den Bleichwiesen zurückkehrt.<br />
Ruisdael setzt das Motiv der weißen Tücher nicht nur um des<br />
malerischen Effektes willen ein oder um das örtliche Gewerbe<br />
zu rühmen, sondern schreibt dem Gemälde auch eine verborgene,<br />
symbolische Sinnschicht ein. Mit dem Motiv der von der<br />
Sonne gebleichten Tücher verband sich für die Zeitgenossen<br />
auch die Vorstellung von der Reinheit der Seele. Wie bei dem<br />
protestantischen Dichter Jan Luyken (1649–1712) zu lesen ist,<br />
rief das im Sonnenlicht gebleichte Leinen die Erinnerung an<br />
die „Seeligen“ wach, „die mit weißen Kleidern angetan“ (waren).<br />
30 Demnach ließen sich die weißgekleideten Staffagefiguren,<br />
die auf den Bleichen und den umgebenden Wegen<br />
unterwegs sind, auch als Hinweis auf die Reinheit und Keuschheit<br />
der Haarlemerinnen lesen. <strong>Die</strong>ser Aspekt dürfte den Käufern<br />
oder Auftraggebern des Bildes gefallen haben und die<br />
Vorzüge des Gemäldes weiter gesteigert haben.<br />
Hochgeschätzt wurde sicherlich vor allem auch die malerische<br />
Behandlung des Wolkenhimmels, die Ruisdael meisterlich beherrschte.<br />
Er räumt der Himmelszone den Großteil der Bildfläche<br />
ein, um hier ein Wolkenspektakel aus aufgetürmten<br />
Cumulus-Wolken, darüberliegenden flachen Wolken und dünnen<br />
Federwolken am Horizont zu entwerfen. Ruisdael hat<br />
eine typisch nordeuropäische Sommerwetterlage so realitätsnah<br />
festgehalten wie kein anderer Künstler seiner Zeit. 31 Der<br />
Maler nutzte den Wolkenhimmel zugleich für eine effektvolle<br />
Lichtinszenierung, die die Bleichwiesen, die Stadt, den Dom in<br />
wechselnde Hell- und Dunkelzonen taucht und das Bild mit Bewegung<br />
und Leben erfüllt.<br />
Neben den Hinweisen auf Gewerbefleiß, auf die historische<br />
Bedeutung der Stadt, auf die florierenden Geschäfte und die<br />
Sittlichkeit ihrer Bürger gehört auch der hohe Wolkenhimmel<br />
zu den Charakteristika des Gemäldes. Er überwölbt und bekrönt<br />
die „ideale Stadt“. Ruisdael knüpft am Ende des
8 Jacob Isaacsz van Ruisdael<br />
1628/29 Haarlem – 1682 Amsterdam<br />
Haarlem von den Dünen im Nordwesten gesehen<br />
Um 1670<br />
Lw., 54,1 x 66,9 cm<br />
Bez. rechts unten: JvRuisdael (JvR verbunden)<br />
Erworben 1874<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 885C<br />
23
Goldenen Jahrhunderts mit seiner gemalten Hommage an<br />
Haarlem an ein Dichterlob vom Anfang des Jahrhunderts an,<br />
in dem Karel van Mander der Schönheit der Stadt und ihrer<br />
hervorgehobenen landschaftlichen Lage ein literarisches<br />
Denkmal gesetzt hat. 32<br />
„Malerisches Wetter“<br />
Reindert Falkenburg ist systematisch der Frage nachgegangen,<br />
wie Jan van Goyen seine Gemäldevorlagen gefunden<br />
hat, ob er Wolkenstudien betrieben hat und ob in den Gemälden<br />
ein verlässliches Bild der Witterung ihrer Zeit hinterlassen<br />
wurde. Dabei zeigt sich, dass für die Wahl von Wetter und<br />
Wolkenhimmel vorrangig malerische Konventionen bestimmend<br />
waren. Als Protokolle von Naturbeobachtung können<br />
die gemalten Wolken nicht gelten. Vielmehr wurden die Bild-<br />
Wolken jeweils in Einklang gebracht mit der begleitenden<br />
Bildszene, die wiederum von künstlerischen Entwicklungen bestimmt<br />
wurde. Van Goyen hatte im Laufe der Zeit drei Modi<br />
der Wolkenmalerei ausgebildet: In Gemälden, die vor 1630<br />
entstanden und noch der älteren flämischen Tradition der Jahreszeitendarstellung<br />
verpflichtet waren, gab es eine ganze<br />
Vielzahl unterschiedlicher Wetterlagen und Wolkenhimmel, je<br />
nachdem, ob es sich um ein Sommer- oder ein Winterbild handelte.<br />
In dem Jahrzehnt zwischen 1630 und 1640 verwischten<br />
sich die Gegensätze, es kam kaum zu Unterschieden zwischen<br />
Sommer- und Winter-, gutem und schlechtem Wetter. Ein<br />
„Einheitswetter“ bestimmte die Gemälde, ohne spezifische<br />
Rücksicht oder Bezug zur handelnden Bildszene. Winterlandschaften<br />
kamen außer Mode. Ob sie als zu traditionell galten<br />
oder ob die Vernachlässigung des Themas mit einer Klimaveränderung<br />
oder dem Ende der harten Winter in Zusammenhang<br />
zu bringen ist, bleibt eine Frage. Ab den 1640er Jahren<br />
entwickelte van Goyen dann eine Vorliebe für Schlechtwetterszenen<br />
mit dunstig nebliger Atmosphäre und dramatisch<br />
aufgetürmten Wolkenbänken. Falkenburg kommt zu dem<br />
Schluss, dass nicht meteorologisch verbindliche Aussagen die<br />
Wolkendarstellungen bedingten, sondern vorrangig die Entscheidung<br />
van Goyens für „malerisches Wetter“. 33<br />
Zu ähnlichen Schlüssen wie Falkenburg kommt auch die kunstgeschichtliche<br />
Forschung, die sich in den letzten Jahren verstärkt<br />
der Frage zugewandt hat, wie die <strong>holländische</strong>n Maler<br />
ihre Vorlagen gefunden haben und ob sie Wolkenstudien betrieben<br />
haben. 34 Wolken gehören zum festen Repertoire der<br />
<strong>holländische</strong>n Landschafter, die sie einsetzen, um ihre Malerei<br />
dramatisch aufzuladen und ästhetisch zu beleben. Bei<br />
aller meteorologischen Detailtreue handelt es sich um Inszenierungen<br />
des Himmels. So neigte man in Holland dazu,<br />
Wetterlagen, die keine gesteigerten malerischen Effekte versprachen,<br />
unberücksichtigt zu lassen, einmal vorgefundene<br />
Wolkenformen ständig zu wiederholen, gelungene Wolkenkompositionen<br />
anderer Maler zu kopieren. Zwar kündigte<br />
sich gelegentlich, z.B. bei Ruisdael, vorsichtig naturwissenschaftliches<br />
Interesse an, aber noch blieb man dem Ideal der<br />
„Wolkenpoesie“ verhaftet. <strong>Die</strong> Maler folgten den ästhetischen<br />
Bildgesetzen, nicht den Naturgesetzen. Erst 150 Jahre später,<br />
24<br />
gegen Ende des 18. Jahrhunderts, beginnen die Maler den<br />
Himmel sachgemäß zu studieren, Formen und Bildungen der<br />
Wolken systematisch und genau zu erfassen und der Natur in<br />
ihren Bildern so nahe wie möglich auf die Spur zu kommen.<br />
Voraussetzung für diese neue Entwicklung war die Etablierung<br />
der Meteorologie als Wissenschaft gewesen. 35<br />
Paradox formuliert ließe sich die Frage nach Erfindung und<br />
Wirklichkeit in der <strong>holländische</strong>n Malerei so beantworten,<br />
dass man sagt, die Künstler hätten ihre Bilder realistisch erfunden.<br />
<strong>Die</strong> bloße realistische Darstellung ist ihnen erst gar nicht<br />
in den Sinn gekommen, denn es hätte ihrem Selbstverständnis<br />
nicht genügt, sich mit der Schilderung des bloß Tatsächlichen<br />
zu begnügen. Mit dem Bild der heimatlichen Landschaft stellten<br />
sie zugleich das künstlerische Vermögen der Erfindung der<br />
Wirklichkeit unter Beweis. Das Typische und Charakteristische<br />
im Verein mit dem Sinnbildlichen zielte viel mehr auf die Wiedergabe<br />
der Vorstellung als auf die Darstellung der Wirklichkeit<br />
ab.<br />
Anmerkungen<br />
* Ich danke Jürgen Müller, Hamburg, für zahlreiche Hinweise und vor allem<br />
dafür, dass er seine grundlegenden Kenntnisse zu Pieter Bruegel d.Ä.<br />
und zu den Anfängen der Landschaftsmalerei im 16. Jahrhundert ganz<br />
uneigennützig in den vorliegenden Text hat einfließen lassen.<br />
1 Zit. nach Wilfried Wiegand, Ruisdael-Studien. Ein Versuch zur Ikonologie<br />
der Landschaftsmalerei. Dissertation Hamburg 1971, S. 11.<br />
2 Zu Pieter Bruegel vgl. v.a. Jürgen Müller, Pieter Bruegel invenit. Das<br />
druckgraphische Werk. Ausst.Kat. Hamburger Kunsthalle, Hamburg<br />
2001.<br />
3 Zu den kalkulierten Arrangements bei Pieter Bruegel vgl. Bertram Kaschek,<br />
Gottes Werk und Bruegels Beitrag. Zur Deutung der Landschaftsgraphik<br />
Pieter Bruegels d.Ä., in: Ausst.Kat. Hamburg 2001 (wie Anm. 2),<br />
S. 31ff.<br />
4 Den Begriff der „politischen Landschaft“ hat Martin Warnke eingeführt.<br />
Vgl. dazu Martin Warnke, Politische Landschaft. Zur Kunstgeschichte der<br />
Natur. München, Wien 1992.<br />
5 Zum Verhältnis von Kartographie, Malerei und Politik vgl. auch Bärbel<br />
Hedinger, Karten in Bildern. Zur Ikonographie der Wandkarte in <strong>holländische</strong>n<br />
Interieurgemälden des 17. Jahrhunderts. Hildesheim/Zürich/<br />
New York 1986, S. 17 ff.<br />
6 Wie Jan Kelch festgestellt hat, lässt sich eine enge stilistische und motivische<br />
Verwandtschaft mit dem 1597 entstandenen Gemälde von<br />
Jan Brueghel „Szene vor einer Stadt“ in Kassel (Staatl. Gemäldegalerie)<br />
feststellen. Vgl. Katalog der ausgestellten Gemälde des 13.–18. Jahrhunderts,<br />
Gemäldegalerie Berlin-Dahlem 1975, S. 452.<br />
7 Zum Nachleben der allegorischen Themen im 17. Jahrhundert vgl. Peter<br />
Sutton: Introduction, in Ausst.Kat. Masters of the 17th Century Dutch<br />
Landscape Painting, Amsterdam 1987, S. 27.<br />
8 Für die Entschlüsselung der Topographie wurde der Katalog Berlin 1975<br />
(wie Anm. 6),herangezogen, dort S. 451.
9 Vgl. Sutton (wie Anm. 7), S. 24.<br />
10 Nicht allein auf van de Velde bezogen, sondern die <strong>holländische</strong>n Landschaftsmaler<br />
ganz generell einschließend, weist Sutton nachdrücklich<br />
darauf hin, dass <strong>holländische</strong> Landschaftsgemälde keine Porträts des Landes<br />
sind. Vgl. Sutton (wie Anm. 7), S. 1. Als jüngsten Beitrag zur Realismus-Diskussion<br />
und in die gleiche Richtung wie Sutton abzielend vgl. Thomas<br />
Ketelsen, Böhmen liegt am Meer. <strong>Die</strong> Erfindung der Landschaft um<br />
1600. Ausst.Kat. Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2001, S. 5.<br />
11 Samuel van Hoogstraten, Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderconst<br />
anders de zichtbaere Werelt. Rotterdam 1678, S. 135–140.<br />
12 Hoogstraten (wie Anm. 11), S. 139.<br />
13 Sutton (wie Anm. 7), S. 23.<br />
14 Vgl. zur Übernahme der Bruegel-Radierung in das Verhaecht-Gemälde<br />
Ketelsen (wie Anm. 10), S. 25.<br />
15 Vgl. Ann Jensen Adams, Competing Communities in the „Great Bog of Europe“.<br />
Identity and Seventeenth-Century Dutch Landscape Painting, in:<br />
W. J. T. Mitchell, Landscape and Power. Chicago, London 1994, S. 73,<br />
Anm. 58.<br />
16 Vgl. Adams, (wie Anm. 15), S. 58.<br />
17 Zit. nach Katalog Berlin 1975 (wie Anm. 6), S. 183.<br />
18 Vgl. Adams (wie Anm. 15), S. 58.<br />
19 Vgl. Adams (wie Anm. 15), S. 58.<br />
20 Vgl. Adams (wie Anm. 15), S. 66.<br />
21 Zit. nach Adams (wie Anm. 15), S. 40, Anm. 12.<br />
22 Vgl. dazu Hedinger, (wie Anm. 5), S. 127 ff.<br />
23 Vgl. Wolfgang Stechow, Dutch Landscape Paintings of the Seventeenth<br />
Century, Oxford 1981, S. 168 ff.<br />
24 Stechow (wie Anm. 23), S. 172.<br />
25 Zur Kulturgeschichte der Musicos vgl. auch Hedinger (wie Anm. 5),<br />
S. 40.<br />
26 Ruisdael hat wenigstens neun Haarlem-Gemälde geschaffen. Vgl. dazu<br />
Adams (wie Anm. 15), S. 58. Dort wird auch die Diskussion in der Literatur<br />
vorgestellt, die teilweise sogar von 18 Varianten des Sujets ausgeht.<br />
27 Vgl. dazu Seymour Slive, H.R. Hoetink, Jacob van Ruisdael. Ausst.Kat.<br />
Mauritshuis Den Haag, Fogg Art Museum Cambridge, 1982, S. 126.<br />
28 Vgl. zu den Arbeitsdarstellungen in der <strong>holländische</strong>n Malerei Adams<br />
(wie Anm. 15), S. 58.<br />
29 Nach Kat. Berlin (wie Anm. 6), S. 378.<br />
30 Zit. nach Kat. Berlin (wie Anm. 6), S. 378.<br />
31 Zur Wolkenmalerei bei Ruisdael vgl. den Beitrag von Franz Ossing in diesem<br />
Katalog, S. 41ff.<br />
32 Vgl. Sutton (wie Anm. 7), S. 51.<br />
33 Vgl. Reindert Falkenburg, Schilderachtig weer bij Jan van Goyen, in:<br />
Ausst.Kat. Jan van Goyen, Stedelijk Museum de Lakenhal, Leiden 1996,<br />
S. 81.<br />
34 Der Frage nach dem Realitätsgehalt der Wolken im 17. Jahrhundert sind<br />
u.a. nachgegangen Werner Busch, <strong>Die</strong> Ordnung im Flüchtigen. Wolkenstudien<br />
der Goethezeit. In: Ausst.Kat. Goethe und die Kunst, Ausstellungshalle<br />
Schirn, Frankfurt/Main, Weimar, Stuttgart 1994, S.<br />
519–527; John Walsh, Skies and Reality in Dutch Landscape, in: David<br />
Freedberg, Jan de Vries (Hg): Art in History History in Art. Studies in seventeenth<br />
century Dutch culture. Santa Monica 1991, S. 94–117.<br />
35 Vgl. Bärbel Hedinger, Wetter und Wolken. Zur Kunst- und Kulturgeschichte<br />
flüchtiger Erscheinungen. In: Schriftenreihe Forum, Kunst- und<br />
Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Bonn 2000,<br />
Bd. 9, S. 230.<br />
25
In Philips Konincks Gemälde „Holländische Flachlandschaft“<br />
(Abb. 22) geht der Blick von erhöhtem Standpunkt aus über<br />
das <strong>holländische</strong> Tiefland. Ein großer, mehrarmiger Fluss<br />
fließt in breiten Mäandern durch die Landschaft, deren einzige<br />
Erhebung eine sandige Anhöhe im Vordergrund ist, auf<br />
der sich der Standpunkt des Beobachters befindet. Ein breiter<br />
Sandweg mit einem Fuhrwerk und einem Reiter führt das<br />
Auge in das Gemälde. <strong>Kleine</strong> Bewaldungen, langgezogene<br />
Hecken, Felder und Wiesen, einige weidende Kühe und eingebettete<br />
einzelne kleine Gehöfte weisen darauf hin, dass es<br />
sich um eine Kulturlandschaft handelt, eine Landschaft also,<br />
die vom Menschen ebenso geprägt ist wie von der Natur.<br />
<strong>Die</strong> <strong>holländische</strong> Malerei des 17. Jahrhunderts zeigt in nahezu<br />
photographischer Präzision die verschiedenen Charakteristika<br />
der niederländischen Landschaft mit ihren Wasserläufen,<br />
Wiesen, Feldern, Dünen und Küsten. Der „Realismus“ der Darstellung<br />
allerdings beruht meistens nicht auf einer linearen Abbildung<br />
der Wirklichkeit im Gemälde, sondern es handelt sich<br />
um Bildkompositionen, deren einzelne Elemente naturnah wiedergegeben<br />
sind. Damit stellt sich nicht nur die Frage, ob<br />
ein reales Stück Landschaft abgebildet ist, sondern ob die<br />
Elemente, die diese <strong>holländische</strong> Landschaft prägen, im Gemälde<br />
realistisch reproduziert werden. <strong>Die</strong>se Fragestellung<br />
ist, wie wir sehen werden, eng verbunden mit der geologischen<br />
Geschichte dieses Teils Europas. Wie entstehen diese<br />
Landschaften, die von den Meistern des Goldenen Zeitalters<br />
so perfekt in Szene gesetzt wurden?<br />
Geowissenschaftlich betrachtet stellt diese Landschaft, wie<br />
jede Landschaft überhaupt, nur ein räumliches und zeitliches<br />
Segment eines großen Kreislaufs dar, des Kreislaufs der Gesteine.<br />
Das Gesicht unserer Erde unterliegt einem ständigen<br />
Wandel. Landschaft, das heißt die Oberfläche unseres dynamischen<br />
Planeten, ist Resultat eines Prozesses, der sich aus<br />
Kräften speist, die im Erdinnern und an seiner Oberfläche wirken.<br />
Wasser, Wind und Sonne<br />
Beginnen wir unsere Analyse zunächst bei den Kräften, die an<br />
der Erdoberfläche wirken. Ein Gebirge, zum Beispiel die<br />
Alpen, wird im Laufe von Jahrmillionen durch Sonne, Wind,<br />
Wasser und Eis abgetragen. Bei Erhitzung durch Sonnenstrahlung<br />
und nachfolgender Abkühlung bilden sich Risse im<br />
Felsen. Wasser dringt in kleine Felsspalten, gefriert und<br />
sprengt dabei das Gestein auseinander. Steinschlag, Regengüsse,<br />
Lawinen und Gletscher transportieren diesen durch<br />
Verwitterung erzeugten Gesteinsschutt zu Tal (Abb. 9). Bäche<br />
und Flussläufe bewegen die Steine und Felsbrocken weiter.<br />
Von ihren Reisen nach Norwegen und den Alpenüberquerungen<br />
bei Italienreisen brachten die <strong>holländische</strong>n Landschafts-<br />
26<br />
Wie entsteht Landschaft?<br />
Franz Ossing, Jörg F. W. Negendank, Rolf Emmermann<br />
9 Wasserfall im Abfluss vom Jostedalsbren-Gletscher,<br />
Südnorwegen<br />
maler Eindrücke dieses geologischen Sachverhaltes mit, die<br />
sie in Gemälden verarbeiteten oder an ihre Kollegen aus den<br />
Malergilden weitergaben. <strong>Die</strong> Wasserfälle von Jacob van<br />
Ruisdael (Abb. 24) oder Allart van Everdingens Gebirgslandschaften<br />
mit ihren großen Felsklötzen (Abb. 25) stellen den<br />
Anfangspunkt des Gesteinstransportes vom Gebirge bis zum<br />
Meer dar, das bereits erwähnte Gemälde von Koninck den<br />
Endpunkt. Während des Transportes wird das mitgeführte Gestein<br />
weiter zerkleinert und auch abgelagert, wobei gilt: je<br />
größer die Fließgeschwindigkeit, desto größer die Felsstücke,<br />
die transportiert werden können. Wenn in Form einer Katastrophe<br />
Fels- oder Bergstürze in das menschliche Bewusstsein<br />
dringen, darf nicht vergessen werden, dass es sich hier um<br />
einen natürlichen Prozess handelt, der über Millionen von Jahren<br />
andauert. Solche katastrophal ablaufenden Erosionsprozesse<br />
eines Gebirges stellen dabei – geowissenschaftlich betrachtet<br />
– lediglich Extremereignisse dar. In der Form von<br />
Flussgeröll oder im Gesteinsmehl der grünbläulich gefärbten<br />
Gletschermilch (Abb. 10, 11) werden über Jahrmillionen hinweg<br />
ebenfalls gewaltige Mengen zu Tal und letzlich zum<br />
Meer hin transportiert.<br />
Plattentektonik und Sedimentbecken<br />
In geologischen Zeiträumen betrachtet werden also Gebirge,<br />
schließlich auch ganze Kontinente, abgetragen und der Schutt<br />
ins Meer geschwemmt. Dadurch müssten in etwa 340 Millionen<br />
Jahren die Ozeane mit dem von den Kontinenten abgetragenen<br />
Material gefüllt sein (Negendank 1981). <strong>Die</strong> ältesten<br />
Kontinentalgesteine, die wir kennen, sind aber rund vier<br />
Milliarden Jahre alt. Daraus folgt, dass neben dem Abtragungsprozess<br />
ein anderer Prozess wirken muss, der beständig
10 Gletschersee und Abflussbach vom Jostedalsbren-Gletscher,<br />
Südnorwegen. <strong>Die</strong> Blaufärbung des Wassers (Gletschermilch)<br />
stammt von Gesteinsmehl. Am Hang des durch Gletscher ausgeräumten<br />
Trogtals sind Schuttkegel von verwittertem Material<br />
zu erkennen.<br />
neues Material bereit stellt. Heute wissen wir, dass durch die<br />
Kollision von großen Lithosphärenplatten ständig neue Gebirge<br />
aufgefaltet werden. So bestehen die Gipfel der Alpen<br />
aus dem alten Boden eines längst verschwundenen Meeres<br />
(Abb. 12). Außerdem wissen wir, dass in den Ozeanen, beispielsweise<br />
im Mittelatlantik, der Meeresboden auseinander<br />
driftet und dass hier ständig heißes, geschmolzenes Gesteinsmaterial<br />
aus dem Erdmantel aufdringt. Dadurch entsteht permanent<br />
neuer Ozeanboden, wobei sich beispielsweise der<br />
Atlantik immer weiter ausdehnt. Der Antrieb für diesen Prozess<br />
liegt in der Wärmeenergie im Erdinneren, die noch vom<br />
Entstehungsprozess der Erde herrührt, aber auch durch den<br />
radioaktiven Zerfall von Elementen erzeugt wird. Durch diese<br />
Energie werden im Erdmantel gigantische Konvektionswalzen<br />
in Bewegung gesetzt, die sich an der Erdoberfläche in der<br />
horizontalen Bewegung der großen Lithosphärenplatten manifestieren.<br />
Wichtig für unsere Betrachtung des Gesteinskreislaufs in Europa<br />
ist in diesem Zusammenhang, dass sich durch den Zusammenstoß<br />
Afrikas mit Eurasien die Alpen seit etwa 80 Millionen<br />
Jahren auffalten. <strong>Die</strong>ses Gebirge liefert den Großteil<br />
des Gesteinsmaterials, das durch den Rhein bis hin zur Nordsee<br />
transportiert wird. An den Mündungen des Rheins, die<br />
übrigens nicht immer so lagen, wie wir sie heute kennen, wurde<br />
dieses Gestein, mittlerweile durch den langen Fließprozess<br />
zu Sand und Ton verarbeitet, abgelagert: das heutige <strong>holländische</strong><br />
Tiefland ist eine große Sediment-Ablagerung (Hantke<br />
1993).<br />
Quer durch das heutige Europa erstreckte sich vor 320 Millionen<br />
Jahren ein Gebirge, von dem wir nur noch Reste in<br />
Form des Rheinischen Schiefergebirges oder der Hügellandschaft<br />
der Oberpfalz finden. <strong>Die</strong>ses so genannte Variszische<br />
Gebirge wurde durch längst nicht mehr existierende Flüsse<br />
erodiert und in das Vorland transportiert, das heutige Norddeutsche<br />
Becken, eine Senke, in der das hineintransportierte<br />
Material abgelagert wurde. Derartige Sedimentbecken gibt<br />
11 See mit Gletschermilch, an gleicher Stelle weiter talabwärts.<br />
es an vielen Stellen auf der Erde. Sie haben über Zeiträume<br />
von Millionen bis zu einigen 100 Millionen von Jahren große<br />
Sedimentfrachten aufgenommen. Ihrer Entstehung entsprechend<br />
bestehen sie aus Gemischen verschiedener Minerale<br />
und organischer Substanzen, die in Wechselwirkung mit<br />
Atmosphäre, Hydrosphäre und Biosphäre abgelagert worden<br />
sind. Beispiele sind Sande, Tone, Salze und Kalkschlämme.<br />
Durch beständiges Aufschütten neuer Sedimente entstehen in<br />
größeren Erdtiefen von einigen Hunderten von Metern bis wenigen<br />
Kilometern daraus Sedimentgesteine, wie Sand-, Ton-oder<br />
Kalkstein. Sedimentbecken sind im Vergleich zur gesamten<br />
Oberfläche der Erde relativ klein, tragen aber den mit Abstand<br />
größten Teil der für die Menschheit wichtigen Ressourcen.<br />
Dazu gehören in erster Linie die fossilen Energieträger<br />
wie Erdöl und Erdgas, Steinkohle und Braunkohle, aber auch<br />
Torf. Weiterhin wird der größte Teil des für die Trinkwasserversorgung<br />
wesentlichen Grundwassers aus Sedimentgestei-<br />
12 Sedimentgestein in der Brentagruppe (italienische Alpen):<br />
die horizontal geschichteten Lagen des Monte Turrion Basso<br />
(2385 m) sind ehemaliger Meeresboden.<br />
27
nen gewonnen. Daneben sind Sedimentbecken auch Quellen<br />
für viele metallische und nichtmetallische Rohstoffe, Baustoffe,<br />
Zementrohstoffe und Düngemittel.<br />
Selbstverständlich waren diese Zusammenhänge den <strong>holländische</strong>n<br />
Meistern des Goldenen Zeitalters noch nicht bekannt.<br />
Ihre Darstellung der Landschaft Hollands jedoch bildet in Detailtreue<br />
die einzelnen Eigenschaften der Landschaft ab, die<br />
durch die oben dargestellten Prozesse geformt wurde.<br />
Das Gesicht der <strong>holländische</strong>n Landschaft<br />
<strong>Die</strong> erdgeschichtliche Gegenwart Hollands begann vor rund<br />
10.000 Jahren, am Ende der letzten Eiszeit. Das Schmelz-<br />
13 Willem Jansz Blaeu<br />
1571 Uitgeest bei Alkmaar – 1638 Amsterdam<br />
Novus XVII inferiore Germaniae provinciarum ...<br />
(<strong>Die</strong> neuen siebzehn Provinzen der Niederlande)<br />
Amsterdam, um 1630<br />
Kupferstich<br />
Staatsbibliothek zu Berlin, Kartenabteilung, Kart. K 100<br />
28<br />
wasser riesiger Gletscher floss in die Ozeane, bis in Nordamerika<br />
und Europa die großen Eisdecken abgeschmolzen<br />
waren, welche die Kontinente überdeckten. Der Meeresspiegel,<br />
der während der weltweiten Vereisungen mehr als hundert<br />
Meter unter seinem heutigen Niveau gelegen hatte, stieg<br />
über 5000 Jahre mit etwa 2 Meter pro Jahrhundert an. Das<br />
ansteigende Meer überflutete große Schelf- und Küstenbereiche,<br />
die vorher trocken lagen. <strong>Die</strong> Nordseeküste, die damals<br />
etwa im Bereich der Doggerbank lag, wanderte weiter südwärts.<br />
Großbritannien wurde vom europäischen Festland getrennt,<br />
und auch die Landbrücke zwischen Alaska und Sibirien,<br />
über die während der Eiszeit die ersten Menschen aus<br />
Asien nach Amerika eingewandert waren, wurde überflutet.
Bis heute noch wirkt das Ende der Eiszeit an den Küsten nach:<br />
weil die großen Eismassen über den Kontinenten abschmolzen,<br />
wurde der Untergrund entlastet und steigt seitdem langsam<br />
auf. Der Norden Skandinaviens hat sich seit dem Ende<br />
der letzten Eiszeit um mehr als 300 Meter gehoben. Gleichzeitig<br />
damit sank der Untergrund Norddeutschlands und<br />
Hollands ein.<br />
<strong>Die</strong>ser Prozess spiegelt sich im Küstenverlauf wider: große<br />
Teile der Nordseeküste wurden durch Sturmfluten ins Meer gerissen,<br />
die berühmteste Flut von 1362, auch die Große Mandränke<br />
genannt, brachte über 200.000 Menschen den Tod.<br />
Durch weitere große Sturmfluten wie z.B. von 1634 wurde<br />
in etwa der Küstenverlauf der Nordsee geschaffen, den wir<br />
heute kennen (Abb. 13). Eine wichtige Voraussetzung für diese<br />
Flutkatastrophen war das Absinken der Küsten infolge der<br />
Hebungs- und Senkungsvorgänge durch das Abschmelzen der<br />
Eismassen. Hinzu kommt ein Meeresspiegelanstieg von etwa<br />
20 cm pro einhundert Jahre.<br />
Land aus dem Meer: der Mensch gewinnt Land<br />
Der Anstieg des Meeresspiegels verlief nicht gleichmäßig,<br />
sondern erfolgte in mehreren Schüben bestehend jeweils aus<br />
dem Vorrücken der Küstenlinie nach Süden, einem nachfolgendem<br />
Rückzug des Meeres nach Norden und erneutem Vorstoß<br />
nach Süden. Dabei wird das Land vom Meer erodiert, es<br />
kommt zum Auswaschen von Buchten. <strong>Die</strong>ser Bedrohung<br />
durch das Meer versuchten die Küstenbewohner mit dem Bau<br />
von Warften und Deichen entgegenzuwirken. Eine Besonderheit<br />
der <strong>holländische</strong>n Landschaft stellen die Polder dar, Land,<br />
das dem Meer durch Deichbau abgerungen wurde. <strong>Die</strong> bekanntesten<br />
dieser anthropogen gewonnenen Landflächen sind<br />
die Polder im Ijsselmeer, die durch den Bau des Ijssel-Abschlussdamms<br />
gewonnen wurden (Abb. 14). <strong>Die</strong> Gewinnung<br />
solcher Landgebiete findet im Küstenraum schon seit dem<br />
11. Jahrhundert statt, im 17. Jahrhundert war daraus bereits<br />
ein fast industriell zu nennendes Verfahren geworden.<br />
<strong>Die</strong> Sicherung dieses gewonnenen Landes war eine ständige<br />
Aufgabe, wie das Bild „Wiederaufbau des Muiderdammes<br />
1651“ von Jan Asselijn (Abb. 27) zeigt. Durch die bereits seit<br />
dem 13. Jahrhundert vorliegende geschlossene Winterdeichbebauung<br />
an der friesischen Küste erhöhte sich der Wasserstau<br />
und damit der Pegel der Sturmfluten, was wiederum gewaltige<br />
Wassereinbrüche und einen veränderten Küstenverlauf<br />
mit sich brachte (Behre 1999). Nahezu alle diese<br />
katastrophalen Sturmfluten entstanden bei extremen Nordweststürmen<br />
in Zusammenhang mit Springtiden (Glaser<br />
2001), eine Konstellation, die auch heute noch die modernen<br />
Deiche bedroht und sie zum Brechen bringen kann.<br />
Doch auch wenn durch Deichbau die Küsten in menschlichen<br />
Zeitmaßstäben befestigt werden können: alle diese dem Meer<br />
abgetrutzten Landgebiete werden durch die Erosion der Küste<br />
in geologischen Zeiträumen wieder verloren gehen; auch das<br />
ist ein unvermeidliches Resultat der Prozesse im natürlichen<br />
Kreislauf der Gesteine.<br />
Inseln und Dünen, Schlick und Lehm<br />
Wir haben gesehen, dass Holland – geologisch gesehen –<br />
durch ein enges Wechselspiel von tektonischen Prozessen und<br />
Sedimentablagerung entstand. Das heutige <strong>holländische</strong> Tiefland<br />
als Teil eines großen Sedimentbeckens, das von Polen bis<br />
nach Belgien reicht, wurde vor allem durch den Rhein geschaffen,<br />
der noch heute die Schuttmassen von den Alpen bis<br />
an diesen Teil der Nordsee transportiert. <strong>Die</strong>ses Gebiet weist<br />
eine enorme landschaftliche Vielfalt auf: im Westen sind die<br />
Niederlande geprägt durch bis zu 60 Meter hohe Dünen, dieses<br />
Dünenband löst sich nach Nordosten hin in die Kette der<br />
westfriesischen Inseln auf.<br />
Zwischen Inseln und Festland liegt ein Wattenmeer (Abb. 15),<br />
südlich schließt sich eine Marschlandschaft an, die – wie das<br />
Wattenmeer – durch tonige Meeres- und Flussablagerungen<br />
entstand. Hier liegen auch die Polder, die bis zu sechs Meter<br />
unter dem Meeresspiegel liegen. Der Küstensaum ist fast über<br />
die gesamte Länge durch Dünen geprägt (Abb. 4).<br />
Im Osten des Landes finden sich eiszeitliche, durch Gletschervorstöße<br />
erzeugte Grund- und Endmoränen, die an einigen<br />
Stellen eine Heidelandschaft ausgebildet haben (Abb. 17).<br />
Der Süden der heutigen Niederlande besteht aus Schwemmland,<br />
das durch die Schmelzflüsse angehäuft wurde und das<br />
14 Der Abschlussdeich am Ijsselmeer 15 Strömungsrippel im Wattenmeer<br />
29
aus Kies und Schotter besteht, auf dem sich eine dünne<br />
Schicht von Flugsand und Löss abgelagert hat. Wie kommt es<br />
zu dieser landschaftlichen Vielgestalt?<br />
Wieder müssen wir bei der geologischen Gestaltungskraft des<br />
fließenden Wassers ansetzen. Wasser erodiert das Gestein,<br />
transportiert es fort und lagert es dabei wieder ab. Von der<br />
Fließgeschwindigkeit hängt die Größe des transportierten<br />
Gesteinsmaterials ab: je stärker die Strömung ist, desto gröber<br />
ist das mitgeschleppte Material. <strong>Die</strong> durchschnittliche<br />
Größe des zertrümmerten und zermahlenen Gesteins bestimmen<br />
die Geowissenschaftler mit der sog. Korngröße des Materials.<br />
Abhängig von der Stärke der Strömung werden Felsbrocken,<br />
Kies, Sand oder feiner, toniger Schlick abgelagert,<br />
je nach Korngröße des Stoffes (Abb. 16). Dabei verändern<br />
die Bach- und Flussläufe auf dem Weg von den Gebirgen bis<br />
zum Meer im Laufe von Jahrmillionen beständig ihre Lage. In<br />
einem sehr komplexen Wechselspiel von Meeresströmung,<br />
Flussströmung, Sedimentation und Bewuchs, beeinflusst durch<br />
Wind und Wetter, wird in flachen Flussmündungsgebieten<br />
schließlich das zerkleinerte Material angehäuft, also Landschaft<br />
gebildet.<br />
<strong>Die</strong> geringe Fließgeschwindigkeit des Rheins und anderer<br />
Wasserläufe im <strong>holländische</strong>n Tiefland hat zur Folge, dass<br />
das gröbere Gesteinsmaterial sich früh absetzt und im Mündungsgebiet<br />
vorherrschend feines Material im Wasser schwebend<br />
transportiert wird. Silt (schluffiger Feinsand) und Ton<br />
werden so im Laufe der Zeit angehäuft und bilden einen der<br />
Hauptbestandteile des küstennahen Landes auf der Binnenseite.<br />
<strong>Die</strong>ser wertvolle, fruchtbare Boden wurde schon früh in<br />
Holland viehwirtschaftlich genutzt (Abb. 28), der Getreideanbau<br />
spielte eine geringere Rolle und fand auf den Sandböden<br />
der Geest statt (Abb. 29). Hauptsächlich importierte Holland<br />
sein Getreide aus dem Ostseeraum (North, 1992). Ein Blick<br />
16 Geschätzte Fließgeschwindigkeit von Wasser, bei denen Körner<br />
unterschiedlicher Größe Erosions-, Transport- oder<br />
Sedimentationsprozessen unterliegen.<br />
30<br />
17 Heidelandschaft bei Nijverdal/Almelo, Niederlande<br />
über das <strong>holländische</strong> Flachland (Abb. 18, 23) zeigt diese<br />
Gestaltung der Landschaft durch Natur und Mensch.<br />
Jeder Holland-Urlauber schwärmt von den Dünen des Küstensaums<br />
und den vorgelagerten Inseln. <strong>Die</strong> westfriesischen Inseln<br />
18 Holländisches Tiefland bei Lemmer/Ijsselmeer. <strong>Die</strong> vorwiegend<br />
als Weideland genutzte Landschaft wird von zahlreichen Wasserläufen<br />
durchzogen.
19 Transport- und Erosionskraft des Wassers: die feinkörnigen Siltund<br />
Tonsedimente (grau) werden ausgespült und wegtransportiert,<br />
schwerere Ablagerungen wie Sand und Muscheln bleiben<br />
liegen.<br />
entstanden durch den Anstieg des Meeresspiegels nach der<br />
letzten Eiszeit und sind Relikte vorherigen Festlandes. <strong>Die</strong> heutige<br />
Küstenlinie hat sich in groben Umrissen vor etwa 3000<br />
Jahren herausgebildet. Aus einem breiten Dünen- und Strandwall<br />
bildete sich eine Inselkette, die durch das stetige Arbeiten<br />
des Meeres und des Wetters ständig verändert wurde.<br />
Zwischen den Inseln und dem Festland entstand das Wattenmeer.<br />
<strong>Die</strong> Transport-, Erosions- und Sedimentationskräfte von<br />
Wind und Wellen haben an der Trennlinie zwischen See und<br />
Land die feineren mineralischen und organischen Bestandteile<br />
des Bodens im Laufe der Zeit wegtransportiert (Abb. 19).<br />
Was übrig bleibt, ist Sand ab einer bestimmten Korngröße,<br />
der durch Strömung und Wind transportiert und aufgehäuft<br />
wird: Dünen und Strand. Das Gemälde von Philips Wouwerman<br />
(Abb. 30) zeigt einen Hohlweg durch die Dünen, in der<br />
die Charakteristik dieses geologischen Prozesses deutlich<br />
wird: auf der Düne wachsen Gras und sogar ein kleiner<br />
Baum, aber man sieht am Dünenhang abrutschende Grasbrocken<br />
im Sand, also die durch Wind und Regen stattfin-<br />
dende, beständige Erosion und Verlagerung der Düne. Dünen<br />
als Küstenschutz stellen mithin nur eine vorübergehende natürliche<br />
Befestigung dar.<br />
<strong>Die</strong> gleichen Prozesse wirken auch auf den Inseln. Hinzu<br />
kommt hier noch die abtragende Kraft des Meeres, das bei<br />
Ebbe und Flut an den Inseln nagt. Durch die vorherrschenden<br />
Westwinde und die Meeresströmung verlagern sich die westund<br />
ostfriesischen Inseln von West nach Ost, wobei einige Inseln<br />
im längeren Zeitverlauf auch völlig verschwinden oder<br />
neu gebildet werden können. <strong>Die</strong>se kontinuierlich wirkenden<br />
Kräfte von Luft und Wasser sind sehr effektiv. Unterstützt werden<br />
sie noch durch meteorologische Extremereignisse. So verschlang<br />
die St.Lucia-Sturmflut von 1287 große Teile der einst<br />
besiedelten Insel Griend, von der heute nur noch eine kleine<br />
Sandbank vor der Küste von Harlingen übrig ist. Auch die heutige<br />
Befestigung der Inseln durch Deiche und Bepflanzung<br />
kann diesen Prozess nicht vollständig anhalten, sondern nur<br />
verlangsamen (Abb. 20, 21).<br />
Landschaft – das ständig sich verändernde Gesicht der Erde<br />
Der kurze Überblick über die Prozesse, die eine Landschaft<br />
formen und verändern, zeigt die Erde als einen sich ständig<br />
verändernden Planeten. Ihr Aussehen, das für unsere menschlichen<br />
Zeitmassstäbe unveränderlich scheint, variiert beständig<br />
und tiefgreifend. „Landschaft“ ist nur ein anderer Begriff<br />
für die Landoberfläche unserer Erde, die durch Prozesse, die<br />
von innen und von außen auf sie einwirken, gestaltet und ständig<br />
verändert wird. <strong>Die</strong> Landschaft präsentiert sich dabei in<br />
einer bewunderswerten Vielfalt, welche gerade durch die<br />
<strong>holländische</strong>n Maler des „Goldenen Zeitalters“ mit akribischer<br />
Präzision wiedergegeben wird. Geowissenschaftlich betrachtet<br />
sieht man alle wichtigen landschaftlichen Strukturen<br />
Hollands in den Gemälden abgebildet. Dadurch erschließt<br />
sich vielleicht nicht immer die innere Bedeutung der Gemälde.<br />
<strong>Die</strong> alltägliche Umgebung der Menschen Hollands im<br />
17. Jahrhunderts jedoch, ihr Lebensraum und die ihn gestaltenden<br />
Prozesse, werden in den Bildern so in Szene gesetzt,<br />
dass ein Geowissenschaftler in ihnen lesen kann.<br />
20 Sandbank im Wattenmeer vor Ameland 21 Strömungshindernisse zur Befestigung des Bodens im Wattenmeer<br />
bei Holward, Niederlande<br />
31
22 Philips Koninck<br />
1619 Amsterdam – 1688 Amsterdam<br />
Holländische Flachlandschaft<br />
Um 1655/60<br />
32<br />
Lw., 93 x 168,1 cm (oben stark beschnitten)<br />
Bez. rechts unten: P.koning<br />
Erworben 1888<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 821A
23 Joris van der Haagen (zugeschrieben)<br />
Um 1615 Dordrecht – 1669 Den Haag<br />
Flachlandschaft mit Stadt in der Ferne<br />
Eichenholz, 38,1 x 52,9 cm<br />
Erworben 1867<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 810A<br />
33
24 Jacob Isaacsz van Ruisdael<br />
1628/29 Haarlem – 1682 Amsterdam<br />
Der Wasserfall<br />
Um 1675<br />
Lw., 69,5 x 54 cm<br />
Bez. rechts unten: JvRuisdael (JvR verbunden)<br />
Erworben 1858<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 899A<br />
25 Allart van Everdingen<br />
1621 Alkmaar – 1675 Amsterdam<br />
Norwegische Gebirgslandschaft<br />
Um 1665/70<br />
Lw., 115,2 x 91,3 cm<br />
Bez. rechts unten: A v Everdingen (AvE verbunden)<br />
Erworben 1864<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 887A<br />
35
26 Jan Asselijn (zugeschrieben)<br />
1615 <strong>Die</strong>ppe (?) – 1652 Amsterdam<br />
Bruch des Muiderdeiches bei Sturmflut in der Nacht auf den 5. 3. 1651<br />
Um 1651<br />
36<br />
Lw., 73,5 x 95 cm<br />
Erworben 1926<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 1991
27 Jan Asselijn<br />
1615 <strong>Die</strong>ppe (?) – 1652 Amsterdam<br />
Wiederaufbau des Muiderdeiches<br />
Um 1651<br />
Lw., 64 x 97 cm<br />
Bez. links auf der Tonne: JA (verbunden)<br />
Erworben 1958<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 58.2<br />
37
28 Adriaen van de Velde<br />
1636 Amsterdam – 1672 Amsterdam<br />
Kühe auf der Weide<br />
1658<br />
38<br />
Eichenholz, 27,5 x 22,8 cm<br />
Bez. rechts unten: A.v velde F 1658<br />
Erworben 1853<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 903A
29 Pieter Dircksz van Santvoort<br />
Um 1604/05 Amsterdam – 1635 Amsterdam (?)<br />
Landschaft mit Feldweg und Bauernhaus<br />
1625<br />
Eichenholz, 30,2 x 37,5 cm<br />
Bez. links unten: P v Santvoort 1625<br />
Erworben 1926<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 1985<br />
39
30 Philips Wouwerman<br />
1619 Haarlem – 1668 Haarlem<br />
Der Dünenweg<br />
Um 1655<br />
40<br />
Eichenholz, 35,9 x 43,8 cm<br />
Bez. links unten: PHLS W (PHLS verbunden)<br />
Erworben 1907<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 900E
Der unvollständige Himmel<br />
Zur Wolkendarstellung der <strong>holländische</strong>n Meister des 17. Jahrhunderts<br />
Jacob van Ruisdaels Abbildung seiner Heimatstadt Haarlem,<br />
gesehen von den Dünen beim Dorf Overveen im Nordwesten,<br />
geht mit Blick nach Südosten auf die große St. Bavo-Kerk,<br />
um welche die roten Dächer der Stadt in der Sonne leuchten.<br />
Am Firmament türmen sich Haufenwolken auf, einige<br />
dünne Federwolken sind am südöstlichen Horizont noch<br />
zu sehen, auch einige flache Wolken in mittlerer Höhe treiben<br />
am Himmel. <strong>Die</strong> Sonne steht fast genau im Westen, die<br />
Flügel der Windmühlen sind in den nordwestlichen Wind gerichtet.<br />
Meteorologisch gesehen deutet sich die Wettersituation so: im<br />
Laufe der Nacht hat eine Kaltfront mit Gewittern und Schauern<br />
Holland von Nordwesten her überquert und die vor ihr liegende<br />
wärmere Luft verdrängt. In der Nähe der Frontrückseite<br />
waren noch einige Cirruswolken zu beobachten, ebenso einige<br />
mittelhohe Altocumuluswolken. <strong>Die</strong> frisch eingeflossene<br />
polare Meeresluft mit guter Sicht würde binnen kurzem weiter<br />
unter Hochdruckeinfluss geraten, aber hier, an der Rückseite<br />
der Kaltfront, war die Luft noch instabil genug, um mittlere<br />
und auch einige starke Cumuluswolken zu gebären. Einige<br />
von diesen waren jetzt, am späten Nachmittag, bereits zerfallen,<br />
die Reste davon sind am oberen Bildrand zu entdecken.<br />
Der Wind hatte von südwestlichen Richtungen auf<br />
Nordwest gedreht, denn zwei der sieben Windmühlen im Bild<br />
haben noch ihre Flügel nach Südwest gedreht, während die<br />
aktiven Mühlen in die jetzt herrschende Windrichtung schauen<br />
(Abb. 8).<br />
Ein Gemäldehimmel also, der eine für Europa typische Wetterlage<br />
meteorologisch korrekt wiedergibt, ein Beleg für die<br />
exakte, detailgetreue Wiedergabe der Natur im Bild. In der<br />
Tat gab es vor den <strong>holländische</strong>n Meistern des 17. Jahrhunderts<br />
keine Landschafts- und Himmelsdarstellung, die eine derartige<br />
Realitätstreue aufweisen. Folglich füllen die Schriftwerke<br />
über den Realismus der <strong>holländische</strong>n Landschaftsmaler<br />
<strong>Bibliothek</strong>en. Bereits John Constable hat 1836 in seinen<br />
Vorlesungen über Landschaftsmalerei in der „Winterlandschaft“<br />
Jacob van Ruisdaels (c. 1670, Philadelphia Museum<br />
of Art) die meteorologische Stimmigkeit des Gemäldes festgestellt<br />
(Badt 1960, Gedzelmann 1991). In neuerer Zeit rückten<br />
durch das Interesse an der Klimaveränderung die Gemälde<br />
der Meister des Goldenen Zeitalters auch in das Interesse der<br />
Klimaforscher. Lamb wies schon 1982 auf den Einfluss der<br />
„<strong>Kleine</strong>n Eiszeit“ auf die sozioökonomische Entwicklung<br />
Hollands und die damit eng verbundene Malerei hin (Lamb<br />
1987, S. 250–257).<br />
Etwa gleichzeitig begann in der Kunstgeschichte eine erneute<br />
Debatte über den Realismus der <strong>holländische</strong>n Landschaftsmalerei<br />
des 17. Jahrhunderts, in der sich schnell zeigte, dass<br />
der „Realismus“ nicht in dem Sinne missverstanden werden<br />
darf, dass die Gemälde des „Gouden Eeuw“ eine lineare Ab-<br />
Franz Ossing<br />
bildung der Natur darstellen (Freedberg/de Vries 1991). Stillleben<br />
zeigen Blumen in der Vase, die zu verschiedenen Jahreszeiten<br />
blühen, Architekturdarstellungen verschieben die optischen<br />
Linien zugunsten der Gesamtdarstellung und Landschaften<br />
stellen sich als topographische Phantasiegebilde<br />
heraus. <strong>Die</strong> Gemälde sind also eher als Bildkompositionen zu<br />
verstehen, die aus realistisch wiedergegebenen Komponenten<br />
zusammengestellt sind, deren Gesamtes aber weit mehr ist als<br />
das summarische Zusammenfügen einzelner Baustücke.<br />
Das Wetter – damals und heute<br />
Für die Wolkendarstellungen der <strong>holländische</strong>n Meister stellt<br />
sich daher die Frage, ob sie die meteorologische Wirklichkeit<br />
wiedergeben. Klimatologisch schließt sich unmittelbar die Frage<br />
an, ob „das Wetter“ im Holland des 17. Jahrhunderts vergleichbar<br />
war mit unserem heutigen. Der Beginn der „<strong>Kleine</strong>n<br />
Eiszeit“ wird im allgemeinen gegen Mitte des 16. Jahrhunderts<br />
angesetzt, ihr Ende gegen 1850 (Flohn 1993, Glaser<br />
2001). Im Vergleich zu den vorhergehenden höheren Temperaturen<br />
des mittelalterlichen Klimaoptimums sanken die Temperaturwerte<br />
in mehreren Schüben seit dem 16. Jahrhundert<br />
zwar beträchtlich ab, doch ist der Begriff „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“<br />
nicht so zu verstehen, dass das Wetter durchweg schlecht war.<br />
Allerdings ist eine spürbare Verringerung der Durchschnittstemperatur<br />
festzustellen. <strong>Die</strong> Winter waren sehr viel kälter, die<br />
Wasserflächen über lange Zeit stark vereist. Extreme Temperaturminima<br />
wurden in der Zeit zwischen 1693 und 1699 sowie<br />
1750 und 1770 registriert. <strong>Die</strong>ses im Vergleich zu heute<br />
kühlere Klima führte allerdings nicht zu einem von heute<br />
grundsätzlich verschiedenen Erscheinungsbild der Wolken,<br />
genau so, wie sich heute die gleichen Wolken in allen Klimaregionen<br />
der Welt finden, wenn auch mit unterschiedlicher<br />
Häufigkeit ihres Auftretens. Man kann also festhalten: die Maler<br />
des Goldenen Zeitalters hatten die gleichen Wolken vor<br />
Augen wie wir heute (Abb. 31).<br />
Wolken im Gemälde und in der Natur<br />
Kaum ein Naturphänomen berührt die Menschen auch heute<br />
noch so direkt wie das Wetter. Um so mehr muss die Änderung<br />
des Klimas hin zu längeren und kälteren Wintern die Menschen<br />
berührt haben, die vom Wetter noch stärker abhingen<br />
als heute. Dass die von Seefahrt und Landwirtschaft geprägte<br />
<strong>holländische</strong> Gesellschaft des 17. Jahrhunderts das Wetter als<br />
Leitthema in ihre Kultur aufnahm, ist nur folgerichtig. Damit ist<br />
dieses Phänomen der Holländischen Landschaftsmalerei natürlich<br />
noch nicht vollständig erklärt, aber ohne die Klimaverschlechterung<br />
als Hintergrund ist die Entstehung der Himmelsmalerei<br />
nicht zu verstehen (Abb. 74).<br />
41
31 Cumulus mit Fallstreifen, dichter Cirrus spissatus, Altocumulus<br />
bei Oeding/Westf., 10. 4. 1975, 18:25 Uhr.<br />
Ein solcher Himmel wird bei van Santvoort „Landschaft mit<br />
Feldweg und Bauernhaus“ dargestellt (vgl. Abb. 29).<br />
In der kunstgeschichtlichen Literatur gibt es – bei aller Breite<br />
der dort geführten Diskussion über den Realismus der Gemälde<br />
– wenig meteorologisch stichhaltiges Material. Das ist<br />
eigentlich erstaunlich, wenn man sich bewusst macht, dass in<br />
den Gemälden der Himmel bis zu drei Viertel der Bildfläche<br />
einnimmt. Maltheoretisch erschöpft sich häufig die Debatte<br />
auf den Hinweis, dass in den Illuminierbüchern und „Schilderboeken“<br />
u.a. von Karel van Mander, Samuel van Hoogstraaten,<br />
Gerard ter Brugghen und schließlich Gerard de Lairesse<br />
die Maler auf die Wichtigkeit eines gut gemalten Himmels<br />
hingewiesen wurden, wie die Natur ihn dem Auge bietet (vgl.<br />
zusammenfassend Esmeijer 1977). <strong>Die</strong> Überprüfung auf die<br />
meteorologische Exaktheit jedoch ist ein anderes Thema.<br />
<strong>Die</strong> Analyse der meteorologischen Elemente in den Gemälden<br />
steht vor dem Problem, die <strong>holländische</strong>n Himmel im doppelten<br />
Sinn zu interpretieren: wenn die Gemälde Kompositionen<br />
sind, muss erstens überprüft werden, ob das dargestellte<br />
Wetter in das Gemälde passt. Das anfangs angeführte Beispiel<br />
der Haarlemer Bleichen von Ruisdael ist meteorologisch<br />
stimmig, weil die dargestellte Wetterlage sich zum Linnenbleichen<br />
eignet. Eine Interpretation des Gemäldes als meteorologisches<br />
Stimmungsbild würde dennoch zu kurz greifen,<br />
weil beispielsweise das Linnenbleichen in seiner ikonographischen<br />
Bedeutung (Michalski 1992) dann unterschlagen würde<br />
(Abb. 32, 33).<br />
Zweitens besteht das Wetter aus einer Vielzahl verschiedener<br />
Situationen, die sich – gerade in den mittleren Breiten unseres<br />
Planeten – in einer großen Vielfalt von Wolken darstellen. <strong>Die</strong><br />
World Meteorological Organization (WMO) hat durch die<br />
Katalogisierung der Wolken versucht, diesem Umstand Rechnung<br />
zu tragen (WMO 1987). <strong>Die</strong> Gemäldewolken können<br />
meistens durch Vergleich mit der Katalogisierung nach dem<br />
Regelwerk der WMO recht gut bestimmt werden – für sich<br />
schon ein Beleg der naturgetreuen Darstellung.<br />
42<br />
Tatsächlich zeigen die Gemälde der <strong>holländische</strong>n Meister<br />
eine unglaubliche Vielfalt an Wolken und an meteorologischen<br />
Phänomenen. Dennoch zeigt bereits ein oberflächlicher<br />
Blick, dass bestimmte Wolken häufig, andere selten<br />
oder gar nicht auftauchen.<br />
Folglich findet sich in der kunstgeschichtlichen Debatte ein<br />
breites Spektrum an Positionen zum Realitätsgehalt der <strong>holländische</strong>n<br />
Gemäldewolken. <strong>Die</strong> Extrempositionen werden dabei<br />
durch zwei völlig gegensätzliche Ansichten markiert: Rostworowski<br />
(1981) auf der einen Seite sieht in der <strong>holländische</strong>n<br />
Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts den kompletten<br />
Wolkenkatalog dargestellt, der Realismus der Himmelsdarstellung<br />
wird nicht im Geringsten in Zweifel gezogen.<br />
Demgegenüber spricht Walsh (1991) der Wolkendarstellung<br />
den Realismus nahezu komplett ab, weil die Wolkenformen<br />
von den Malern den Bedürfnissen der Bildkomposition entsprechend<br />
buchstäblich hingebogen würden und weil bestimmte,<br />
für Holland typische Himmel gar nicht auftauchten.<br />
32 Aufgetürmter Cumulus, Mingerode, 23. 5. 1974, ca. 18 Uhr
33 Jacob Isaacsz van Ruisdael<br />
1628/29 Haarlem – 1682 Amsterdam<br />
Haarlem von den Dünen im Nordwesten gesehen<br />
Um 1670<br />
Lw., 33,8 x 41,2 cm<br />
Bez. rechts unten: JvRuisdael (JvR verbunden)<br />
Erworben 1873<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 885E<br />
43
Der Realismus der künstlerischen Darstellung<br />
L. de Vries (1991) hob hervor, dass der „Realismus“ in den<br />
<strong>holländische</strong>n Gemälden des 17. Jahrhunderts nicht so verstanden<br />
werden darf, dass es sich hier um eine naturidentische<br />
Wiedergabe der gemalten Gegenstände handelt. <strong>Die</strong><br />
Gemälde sind Kunstwerke, tragen also die persönliche Signatur<br />
des Malers. Hinzu kommt, dass sich im Holland des<br />
17. Jahrhunderts Schulen von Malkünstlern herausbildeten,<br />
die der individuellen Handschrift des Malers noch zusätzliche<br />
Charakteristika aufdrückten. Anhand des Beispiels von Esaias<br />
van de Velde (1590/61–1630) soll dieses erläutert werden.<br />
Es ist bekannt, dass E. van de Velde seine Gemälde gern mit<br />
mittelhohen Altocumulus- und hohen Cirruswolken ausstattete.<br />
In seiner „Ansicht von Zierikzee“ (Abb. 3) erstreckt sich ein<br />
langes Cirrus-Band diagonal über den Himmel.<br />
Der amerikanische Meteorologe Stanley Gedzelman hat in<br />
mehreren Arbeiten die Himmelsdarstellung in den <strong>holländische</strong>n<br />
Gemälden mit den für Europa typischen Wetterlagen<br />
in Verbindung gebracht (Gedzelman o.J., 1989, 1991) und<br />
erklärt diese Himmelsdarstellung bei E. van de Velde mit<br />
einem Tiefdruckgebiet, welches nördlich von Holland durchzog<br />
(Gedzelman o.J., S. 7.5). In Frontennähe sind in der Tat<br />
häufig lange Bahnen von Cirrus zu finden (Abb. 34).<br />
<strong>Die</strong>ses Werk E. van de Veldes bleibt jedoch eine Ausnahme<br />
in den Gemälden des 17. Jahrhunderts, denn ein solcher<br />
Himmel mit Cirrusfahnen als einzigem und bestimmenden<br />
Element findet sich nicht noch einmal (Gedzelman, o.J., vgl.<br />
Neumann/Ossing 1997). Auch in den späteren Werken<br />
Esaias van de Veldes sind häufig Cirren oder Cirrostratus-<br />
Schleier zu finden, aber fast stets in Verbindung mit anderen<br />
Wolken.<br />
Ebenfalls eine seltene Gemäldewolke ist ein durchgehendes<br />
Altostratus-Deck (mittelhohe Schleierwolke), das wegen seiner<br />
grau bis graublauen Färbung einen eher einheitlich gefärbten,<br />
gleichförmigen Himmel erzeugt. Pieter de Molijns<br />
„Dünenlandschaft mit Bauerngehöft“ (Abb. 36) stellt einen<br />
solchen Himmel dar. Der dichte Altostratus reisst am oberen<br />
Bildrand auf und lässt die Abendsonne durchscheinen. Am<br />
rechten Bildrand ist eine wellige Struktur angedeutet, und<br />
in der Wolkenlücke ist hohe Schleierbewölkung zu erkennen.<br />
Kompakter Altostratus kann in Europa in herangeführter subtropischer<br />
Meeresluft auftreten; die scharfen Kanten – eher<br />
uncharakteristisch für Altostratus – können bei Herannahen<br />
einer Kaltfront erscheinen, welche die wärmere maritime<br />
Subtropikluft verdrängt. Eine solche Wettersituation ist in<br />
Abb. 35 dargestellt.<br />
<strong>Die</strong>se sehr realistische Wiedergabe eines Himmels mit<br />
Schichtbewölkung ist untypisch für die <strong>holländische</strong> Landschaftsmalerei<br />
des 17. Jahrhunderts. Ein gleichförmiger Himmel<br />
bildet eher die Ausnahme, und das bezieht sich nicht nur<br />
auf den hier vorgestellten Wolkentyp.<br />
44<br />
34 Cirruswolken in der Nähe einer Front, Coesfeld/Westf.,<br />
25. 4. 1978, 08:35 Uhr<br />
35 Kompakter Altostratus mit Wogenstrukturen, Berlin,<br />
6. 1. 1988, 12:15 Uhr<br />
Cumulus: die allgegenwärtige Wolke<br />
Zu den am häufigsten dargestellten Wolken der <strong>holländische</strong>n<br />
Meister gehören Haufenwolken (Cumulus). Cumuli bilden sich<br />
üblicherweise in labil geschichteter Luft, wenn die Erwärmung<br />
des Bodens ausreicht, um ein Luftpaket soweit zu erwärmen,<br />
dass es beginnt aufzusteigen. <strong>Die</strong> „Haarlempjes“ Jacob van<br />
Ruisdaels (Abb. 8, 33) zeigen in meisterlicher Ausführung<br />
solche Wolken in einer sommerlichen Landschaft. Nahezu<br />
alle <strong>holländische</strong>n Landschaftsmaler haben Cumuli gemalt,<br />
entweder als einzige Wolkengattung am Himmel oder zusammen<br />
mit anderen Wolken.<br />
Vor allem an der Darstellung der Cumuluswolken wurde Kritik<br />
geübt (Walsh 1991, Gedzelman 1989). Cumuli haben häufig<br />
eine scharf abgegrenzte Wolkenunterkante; diese finde sich<br />
in den meisten Gemälden jedoch nicht. Zudem werde in den<br />
Gemälden der <strong>holländische</strong>n Meister häufig die Cumulus-
36 Pieter de Molijn<br />
1595 London – 1661 Haarlem<br />
Dünenlandschaft mit Bauerngehöft (Der Abend)<br />
1627<br />
Eichenholz, 32 x 43,4 cm<br />
Bez. rechts unten: PMolyn 1627 (PM verbunden)<br />
Erworben 1909<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 960B<br />
45
wolke zur Steigerung der Bilddynamik unrealistisch verbogen.<br />
Andeutungsweise ist diese Malweise noch in Salomon van<br />
Ruysdaels „Landschaft mit Bauerngehöft“ (Abb. 40) zu erkennen.<br />
<strong>Die</strong> Unterkante einer Cumuluswolke markiert das Kondensationsniveau<br />
in der Atmosphäre, d.h. das Temperaturniveau, in<br />
dem der in der Luft enthaltene Wasserdampf kondensiert. Es<br />
lässt sich tatsächlich festhalten, dass die scharf abgegrenzten<br />
Unterkanten der Cumuli häufig fehlen. Aber erstens ist das<br />
nicht immer der Fall, in Konincks „Holländischer Flachlandschaft“<br />
(Abb. 22) bilden sie das bildkompositorische Gegenstück<br />
zur horizontalstreifig angelegten Landschaft. Zum zweiten<br />
hat nicht jeder Cumulus eine solche gerade Unterkante<br />
(Abb. 37, 38).<br />
Dennoch ist festzuhalten: es gibt diese verbogenen Cumuli bei<br />
mehreren <strong>holländische</strong>n Malern, auch der Cumulus-Spezialist<br />
Jacob van Ruisdael hat in seinen frühen Werken diese Darstellung<br />
benutzt. <strong>Die</strong>ses Phänomen war auch in anderen Stilrichtungen<br />
außerhalb Hollands weit verbreitet; so hat etwa<br />
N. Poussin in der „Landschaft mit dem Evangelisten Matthäus“<br />
(1639/49, Gemäldegalerie, Berlin, Kat.Nr. 478A) eine Cumuluswolke<br />
mit einem gebogenen Schwanz gemalt.<br />
<strong>Die</strong> Entwicklung der <strong>holländische</strong>n Landschaftsmalerei des<br />
17. Jahrhunderts ist aber von einer starken Dynamik geprägt.<br />
Bei der Behandlung der Cumuluswolken lässt sich deshalb feststellen,<br />
das nach 1650 solche verbogenen Wolken kaum noch<br />
auftauchen, das maltheoretische Problem mit den geraden Unterkanten<br />
ist einer Lösung zugeführt. <strong>Die</strong> besteht in den meisten<br />
Fällen darin, dass die Wolkenuntergrenze hinter Bäumen oder<br />
Ähnlichem versteckt oder nur angedeutet wird (Abb. 41, 82).<br />
<strong>Die</strong> Cumulus-Unterkanten sind also fast komplett verschwunden,<br />
es bleiben die diffusen Untergrenzen. Ein Gemälde in<br />
der Art Jan von Goyens (Abb. 42) stellt dieses Phänomen deutlich<br />
heraus: Cumuluswolken in feuchtwarmer Luft hängen über<br />
der Landschaft, Fallstreifen aus einer Wolke heraus weisen auf<br />
beginnenden, schauerartigen Niederschlag (vgl. Abb. 39).<br />
<strong>Die</strong> Eisflächendarstellung von Aert van der Neer (Abb. 77)<br />
zeigt rechts flachere, links stark quellende Cumulusbewölkung.<br />
Für einen späten Winternachmittag ist das eher ungewöhnlich,<br />
wenn auch nicht unmöglich: Cumuli entstehen meistens<br />
durch aufsteigende Luftpakete, die sich vorher am Boden<br />
erwärmt haben. Das ist aber für die dargestellte Situation unwahrscheinlich:<br />
bei nachlassender Strahlungskraft kann auch<br />
im späten Winter die Sonne den Boden gegen Abend kaum<br />
noch soweit erwärmen, dass sich stark quellende Cumuli entwickeln,<br />
eher ist durch die Abkühlung zu erwarten, dass sich<br />
in der Nähe der Eisflächen Nebel bildet.<br />
Demgegenüber kann sich im Sommer nachts durchaus dieser<br />
Bewölkungstyp entwickeln (Abb. 43). Der Boden kann aufgrund<br />
seiner Wärmespeicherkapazität auch nach Sonnenuntergang<br />
noch zu Cumulusentwicklung beitragen.<br />
46<br />
37 Cumuli mit scharfen Unterkanten, Friedrichskoog, 13. 9. 1986,<br />
14:05 Uhr<br />
38 Cumulus mit diffuser Unterkante, Berlin, 9. 6. 1974, 19:17 Uhr<br />
39 Großer Cumulus bei Neustadt/Holst. <strong>Die</strong> beginnende Niederschlagsbildung<br />
zeigt sich im Fallstreifen knapp rechts von der<br />
Bildmitte. 27. 8. 1978, 12:30 Uhr
40 Salomon Jacobsz van Ruysdael<br />
1600/03 Naarden – 1670 Haarlem<br />
Landschaft mit Bauerngehöft<br />
1631<br />
Eichenholz, 68,5 x 105,5 cm<br />
Bez.links unten: S.v.Ruysdael 1631<br />
Erworben 1880<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 901C<br />
47
41 Jacob Isaacsz van Ruisdael<br />
1628/29 Haarlem – 1682 Amsterdam<br />
Eichen an einem See mit Wasserrosen<br />
Um 1665<br />
48<br />
Lw., 1196 x 143,7 cm<br />
Bez. unten rechts: JvRuisdael (JvR verbunden)<br />
Erworben 1891<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 885G
42 Art des Jan van Goyen<br />
Hügelige Landschaft<br />
Holz, 39,4 x 50,7 cm<br />
Erworben 1916<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 1782<br />
49
43 Aert van der Neer<br />
1603/04 Amsterdam – 1677 Amsterdam<br />
Flusslandschaft im Mondschein<br />
50<br />
Eichenholz, 24,1 x 39,7 cm<br />
Bez. links unten: AV DN ( jeweils verbunden)<br />
Erworben 1874<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 842C
Was fehlt am Himmel?<br />
<strong>Die</strong> Feststellung, dass der Himmel der <strong>holländische</strong>n Landschaftsmaler<br />
keine vollständige Wiedergabe des Wetters ist,<br />
bedarf einer genaueren Differenzierung. Zunächst ist Rostworowski<br />
(1981) zuzustimmen, der Himmel über den <strong>holländische</strong>n<br />
Landschaftsgemälden gibt die Hauptwolkenarten (von<br />
denen die WMO zehn angibt) alle wieder, wenn auch mit unterschiedlichen<br />
Gewichtungen. Zugleich ist aber auch festzuhalten,<br />
dass damit nicht die Gesamtheit der Himmelserscheinung<br />
„Wolken“ wiedergegeben ist.<br />
Walsh (1991) stellt fest, dass der typische <strong>holländische</strong> Himmel<br />
aus Nieselregen, Schauern, dicken Wolken und Nebel bestehe,<br />
dieses aber in den Bildern nicht auftauche. <strong>Die</strong>se<br />
sicherlich durch das sonnige Kalifornien geprägte Sichtweise<br />
beinhaltet den wahren Kern, dass meistens gutes Wetter, selten<br />
schlechtes Wetter dargestellt wird, und wenn schlechtes<br />
Wetter, dann solches, das sich gerade aufklärt. Ein Beispiel<br />
dafür ist Jan Asselijns „Bruch des Muiderdeiches“ (Abb. 26),<br />
in dem nach der Sturmflut der vergangenen Nacht der Himmel<br />
aufreißt. <strong>Die</strong> Wettersituation entspricht dem Durchzug der<br />
Fronten eines Sturmtiefs, zur rechten Bildseite hin ist noch<br />
dunkle, starke Schauerbewölkung (entweder ein großer<br />
Cumulus oder ein Cumulonimbus) zu erkennen. Stratusfetzen<br />
und zerrissene Stratocumuluswolken am Himmel und die beiden<br />
auf dem Deich sich gegen den Wind stemmenden Männer<br />
zeugen vom heftigen und turbulenten Wind.<br />
Einen Himmel mit Schauerbewölkung bietet auch Wouwermans<br />
„Dünenweg“ (Abb. 30). Aus einem großen Cumulus fällt<br />
ein starker Schauer, ein angedeuteter Böenkragen am unteren<br />
Rand dieser Wolke erstreckt sich nach rechts hin. Einige<br />
Cumulusfetzen sind ebenfalls zu erkennen und deuten auf<br />
starken Wind.<br />
Andererseits wird der langweilige Anblick einer winterlichen<br />
Hochnebeldecke, die ein gleichförmiges Grau bieten würde,<br />
in Dramatik umgesetzt durch das Aufreißen dieser Wolkendecke<br />
(Abb. 1). Wind setzt ein und zerreißt den grauen Himmel,<br />
über der grauen Decke wird helle, von der Sonne beschienene<br />
Stratocumulusbewölkung sichtbar.<br />
Der Himmel wird also von den Malern zur Schaffung von<br />
Stimmung im Bild bewusst eingesetzt, wie dies auch die<br />
„Schilderboeken“ einfordern. Ohne den Himmel bliebe das<br />
Landschaftsbild ausdrucksarm, der Himmel ist die „Seele der<br />
Landschaft“ (Gedzelman, o.J.).<br />
Dennoch: bei aller Vielfalt der Himmel über den <strong>holländische</strong>n<br />
Landschaften des 17. Jahrhunderts bleibt festzustellen, dass<br />
bestimmte Himmel nicht oder sehr selten auftauchen. Dazu<br />
gehören, wie oben dargestellt, lange Cirren, scharfe und gerade<br />
Wolkenunterkanten, aber auch gleichförmige Schichtwolken.<br />
Woher kommt dieser Mangel? <strong>Die</strong> Maler des „Gouden Eeuw“<br />
hatten dieselben Wolken vor den Augen wie wir heute, die<br />
„<strong>Kleine</strong> Eiszeit“ führte nicht zu einem völlig unterschiedlichen<br />
Himmelsbild. Es liegt nahe, andere als meteorologische<br />
Gründe für die selektive Wolkenmalerei zu suchen.<br />
Es herrscht Einverständnis, dass die Meister des 17. Jahrhunderts<br />
sehr genaue Beobachter der Natur waren. Sie werden<br />
also die nicht, oder selten, gemalten Wolken in der realen<br />
Natur, der sichtbaren Welt, sehr wohl wahrgenommen haben.<br />
Es liegt daher nahe, die Erklärung in der Gestaltung der<br />
Gemälde zu suchen: Wolken beherrschen zwar stets den Himmel,<br />
aber es sind Wolken, keine Wolkenstrukturen.<br />
In der Natur ist die gerade Linie außerhalb kristalliner Gebilde<br />
die Ausnahme. Sie ist daher dort ein Blickfänger. Ähnliches<br />
gilt für flächige Muster. <strong>Die</strong> meistens nicht gemalte,<br />
scharf abgegrenzte und fast geradlinige Basis von Cumuluswolken<br />
ist ein Himmelselement, welches das Auge auf sich<br />
zieht (vgl. Abb. 37). Eine lange Cirrusfahne bei sonst<br />
wolkenlosem und blauem Himmel prägt dem Firmament eine<br />
Struktur auf (Abb. 44). Das gleiche gilt für die häufig am Himmel<br />
zu sehenden Wogenstrukturen in der stets rastlosen<br />
Atmosphäre (Abb. 45). Auch repetitive, flächenhafte Muster<br />
lenken das Auge auf sich (Abb. 46). Wellenförmige Strömung<br />
in der Atmosphäre führt häufig zu Linsenwolken (Abb. 47).<br />
Und schließlich gibt es keine Wolke, die den Himmel so<br />
dominiert wie ein Gewitter mit seinen optisch auffälligen Begleitwolken<br />
(Abb. 48, 49).<br />
Es liegt daher auf der Hand, diese ins Auge stechenden<br />
Strukturen am Himmel auszuschließen, da sie die Aufmerksamkeit<br />
vom Bildgeschehen wegführen würden oder der<br />
Bildkomposition eine eigene, dominante Struktur aufprägen<br />
würden.<br />
Aber auch das genaue Gegenteil ist der Fall: die Landregenwolke<br />
Nimbostratus oder eine Decke aus Stratocumulus (die<br />
häufigste Wolke der gemäßigten Breiten) treten in den Szenerien<br />
ebenfalls nicht auf. Das obige Argument gilt hier umgekehrt:<br />
der Himmel dient im Bild zur Aufbau von Dramatik, sehr<br />
häufig wird daher das Aufreißen des Himmels nach einem<br />
Schauer, nach Durchzug einer Front o.ä. dargestellt. Ein uniformer<br />
Stratus- oder Nimbostratushimmel mit gleichmäßigem<br />
Nieselregen kann also zum Bildgeschehen nicht viel beitragen.<br />
Bildkomposition und Massengeschmack<br />
Es ist anzunehmen, dass ein weiterer Aspekt die Auswahl der<br />
Gemäldewolken beeinflusst hat. Erstmals in der Geschichte ist<br />
mit der <strong>holländische</strong>n Malerei des 17. Jahrhunderts die Kunst<br />
in ein fast nur durch den Markt bestimmtes Verhältnis von Käufer<br />
und Produzent getreten. Der soziokulturelle Hintergrund<br />
dafür lässt sich knapp so umreisen: um 1640 bestand die<br />
<strong>holländische</strong> Marine aus insgesamt etwa 35.000 Fahrzeugen,<br />
gegen 1650 besaß Holland die größte Handelsflotte der<br />
damaligen Welt, seine Kriegsflotte war doppelt so stark wie<br />
die englische und französische zusammen. <strong>Die</strong> politische Be-<br />
51
44 Cirrusfahnen, Gescher/Westf.,<br />
19. 10. 1999, 11:55 Uhr<br />
45 Wogenstrukturen, Gescher/Westf.,<br />
3. 3. 1997, 10:10 Uhr<br />
46 Flächige Muster, Coesfeld-Stockum/Westf.,<br />
7. 3. 1997, 17:35 Uhr<br />
52<br />
47 Lenticularis-Wolke, nördlich von Braunschweig,<br />
23. 12. 1985, 13:15 Uhr<br />
48 Gewitter-Amboss, Hopewell Cape, Kanada,<br />
2. 8. 1991, 16:40 Uhr<br />
49 Mammatus-Ausprägungen bei einem Gewitter, Potsdam,<br />
17. 8. 2000, 14:50 Uhr
sonderheit im Holland des 17. Jahrhunderts bestand darin,<br />
dass im Gegensatz zu seinen feudal geprägten Hauptkonkurrenten<br />
die Großmacht Holland keinen Herrscher besaß,<br />
der alle staatlichen Kompetenzen in seiner Person vereinigt.<br />
Vielmehr standen sich hier Ständeparteien, welche die Autonomie<br />
der Provinzen betonten, und die Oranier, welche eine<br />
Stärkung des Absolutismus anstrebten, gegenüber, ohne dass<br />
es ein eindeutiges Machtzentrum gab. Eine solche Konstellation<br />
ermöglichte das Entstehen einer Oligarchie reicher Bürger,<br />
Adliger, Kaufleute und Großbauern (Schulze 1994, S. 82ff),<br />
die sich ganz selbstverständlich zur Präsentation ihres Wohlstandes<br />
mit Kunstgegenständen umgaben. <strong>Die</strong>se Attitüde<br />
strahlte weit in die ärmeren Gesellschaftsschichten aus. Für<br />
die niederländischen Bürger war der Besitz von Gemälden so<br />
selbstverständlich wie der Besitz von Möbeln (Zumthor 1992,<br />
S.218–223). Kurzum: in fast jedem <strong>holländische</strong>n Haushalt<br />
hingen Bilder.<br />
Massenkultur bildet einen Massengeschmack heraus. North<br />
(1992) konnte nachweisen, dass ab Mitte des 17. Jahrhunderts<br />
Landschaftsdarstellungen einen Großteil der nachgefragten<br />
Malproduktion bestimmte. Damit ist, neben bildkompositorischen<br />
Gründen, die Himmelsdarstellung auch durch<br />
den Markt determiniert. Experimente sind nur in begrenztem<br />
Für Francesca, Valentina und Elena<br />
Rahmen möglich, wenn die Käufer die Ware vorbestimmen.<br />
Auch dieses wird ein Grund für das Vorherrschen bestimmter,<br />
und die Randexistenz anderer Gemäldewolken sein.<br />
Bleibt die schiere Zahl: nach van der Woude (1991) sind in<br />
der Zeit zwischen 1580 und 1800 zwischen acht und zehn<br />
Millionen Gemälde angefertigt worden. Ein Forschungsprojekt<br />
der Universität Amsterdam geht davon aus, dass um 1650<br />
die Gildemaler eine Jahresproduktion von rd. 70.000 Bildern<br />
auf den Markt warfen (Frijhoff/Spies 1999). Von dieser gewaltigen<br />
Bildermenge haben weniger als 1% überlebt und befinden<br />
sich heute in Museen und Sammlungen (van der Woude,<br />
a.a.O., North 1992). Es wäre aufgrund der riesigen<br />
Anzahl gemalter Bilder nicht erstaunlich, wenn die Himmelsdarstellungen<br />
auch solche Phänomene aufgenommen hätten,<br />
die wir hier als kaum oder nicht vorhanden aufgeführt haben.<br />
<strong>Die</strong> zu klärende Frage wäre, ob solche Bilder mit der Vielzahl<br />
der nicht mehr existierenden Gemälde verschwunden sind<br />
oder ob auch die heute in den Sammlungen hängenden Bilder<br />
diese meteorologische Vielfalt widerspiegeln. Eine solche Bestandsaufnahme<br />
sollte allerdings vor dem Hintergrund einer<br />
meteorologisch fundierten Interpretation europäischen Wetters<br />
der mittleren Breiten und seiner Wiedergabe in den<br />
Gemälden stattfinden.<br />
53
50 Ludolf Backhuysen<br />
1630 Emden – 1708 Amsterdam<br />
Stürmische See an bergiger Küste<br />
54<br />
Lw., 89 x 136,5 cm<br />
Erworben 1835<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 888
<strong>Die</strong> „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“ und ihre Abbildung im Klimaarchiv Binnensee<br />
Der auch St. Antonius-Deich genannte Muiderdeich brach<br />
während einer Sturmflut in der Nacht vom 4./5. März 1651.<br />
<strong>Die</strong>ser Deichbruch und die folgenden Wiederaufbauarbeiten<br />
wurden von Jan Asselijn in mindestens drei Gemälden dargestellt,<br />
von denen sich zwei in Berlin, eines in Schwerin befinden<br />
(Abb. 26, 27). <strong>Die</strong>ses Sturmflut-Ereignis muss, auch wegen<br />
der damit verbundenen teilweisen Überschwemmung Amsterdams,<br />
beträchtliche Aufmerksamkeit erregt haben. Dafür<br />
sprechen auch die in Gottschalk (1977, Pl. 5–6) wiedergegebenen<br />
Zeichnungen des Zeitgenossen W. Schellinckx’. In der<br />
Tat ist das Besondere daran, dass der Muiderdeich ein Binnendeich<br />
ist, der Amsterdams Ostseite vor der Zuiderzee<br />
schützen sollte. Infolge einer Springflut war die Zuiderzee<br />
hoch gefüllt. <strong>Die</strong> Sturmflut vom März 1651 mit nordwestlichen<br />
Windrichtungen muss den nördlich von Amsterdam gelegenen<br />
Ij und die Zuiderzee so stark aufgepeitscht haben, dass das<br />
östlich von Amsterdam gelegene Deichbauwerk bei ablandigem<br />
Wind brach.<br />
Übereinstimmend berichten Gottschalk (1977, p.161–176)<br />
und Glaser (2001, 152–154) davon, dass 1650/51 eine<br />
sehr regenreiche Periode war, die in Europa weitverbreitet zu<br />
Flussüberschwemmungen geführt hat. Zusammen mit dem hohen<br />
Niederschlag, der zu einer Aufweichung des Deiches geführt<br />
haben kann und der Belastung des Dammes durch die<br />
Sturmflut wäre hier ein mögliches Erklärungsmuster für den<br />
Deichbruch gefunden, das sich mit der Wetterverschlechterung<br />
gut deckt, die mit Einsetzen der so genannten „<strong>Kleine</strong>n<br />
Eiszeit“ etwa hundert Jahre vorher begann.<br />
Was verstehen wir unter „<strong>Kleine</strong>r Eiszeit“?<br />
Unter „<strong>Kleine</strong>r Eiszeit“ wird in der Umgangssprache eine Periode<br />
kälterer Temperaturen, vor allem in den Wintermonaten,<br />
etwa zwischen 1550 und etwa 1800 verstanden. Dabei ist<br />
der Sprachgebrauch deutlich unterschiedlich und umfasst z. T.<br />
auch frühere und spätere Zeiträume, wie die Pfeile in Abb. 51<br />
andeuten. In diesem Aufsatz wird mit „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“ die<br />
Zeitperiode zwischen 1500 und 1800 bezeichnet, wie<br />
Abb. 51 unter Hinzuziehung der beiden solaren Strahlungs-<br />
Minima Spörer- und Maunder-Mininum darstellt. (Abb. 52,<br />
nach Glaser 2001) zeigt den detaillierten Temperaturverlauf<br />
dieser Periode, der ab ca. 1800 das moderne Klimaoptimum<br />
folgt, in dem wir leben. Aus dem geglätteten Temperaturverlauf<br />
lässt sich ableiten, dass sich der Terminus „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“<br />
auf die Temperaturdepression zwischen Mittelalterlichem<br />
Wärmeoptimum und Übergangsphase sowie Modernem Klimaoptimum<br />
bezieht. <strong>Die</strong> nachweisbaren Temperaturänderungen<br />
bewegen sich dabei in der Größenordnung von nicht<br />
ganz 1,5 °C.<br />
Jörg F. W. Negendank, Cathrin Brüchmann und Ulrike Kienel<br />
Zum Vergleich sei an dieser Stelle die Temperaturänderung<br />
aufgeführt, die im Rahmen der anthropogen beeinflussten Klimaentwicklung<br />
diskutiert wird: Man geht heute unter der Annahme<br />
einer Verdoppelung des CO 2-Gehaltes der Atmosphäre<br />
von einer globalen Temperaturerhöhung von 1,5 bis 2,5 °C<br />
aus. <strong>Die</strong>se als globale Mittel prognostizierten Werte werden<br />
in ihrer regionalen Ausprägung jeweils sehr unterschiedlich<br />
ausfallen. Sie können daher nicht mehr als ein grober Orientierungswert<br />
sein. <strong>Die</strong> Temperaturentwicklung der letzten<br />
1000 Jahre entspricht interessanterweise in etwa diesem<br />
Wertebereich, d. h. zumindest für die verhaltenen Schätzungen<br />
von 1,5 °C liegen wir heute im Bereich natürlicher<br />
Schwankungen in Mitteleuropa (Glaser 2001).<br />
51 Der Klimaverlauf der letzten 1000 Jahre nach Beobachtungen<br />
der Winterstrenge in Paris und London. Man erkennt das<br />
Mittelalterliche Klimaoptimum, die „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“, eine mögliche<br />
Korrelation mit den durch kosmische Strahlung verursachten<br />
∆ 14 C-Werten, die in Baumringen dokumentiert wurden,<br />
und die derzeitige Erwärmung. Zusätzlich sind die Sonnenfleckenaktivitätsmuster<br />
eingetragen (nach National Research<br />
Council, 1994).<br />
52 Jahresgang der Temperatur in Mitteleuropa für die letzten<br />
1000 Jahre (Glaser, 2001), mittelfristiger Verlauf aus jährlichen<br />
Angaben (31 Jahre-Filter), schwarz: Gleitender Mittelwert<br />
(Gaußscher Tiefpaßfilter)<br />
warm<br />
kalt<br />
55
<strong>Die</strong> Einbettung der „<strong>Kleine</strong>n Eiszeit“<br />
in die erdgeschichtliche Klimaentwicklung<br />
Der Terminus „Eiszeit“ wird im geologischen Sinn für die Phasen<br />
der Bildung polarer Eiskappen generell verwandt, wie sie<br />
in Abb. 53 für die Entwicklung der nordhemisphärischen Vereisung<br />
seit 21.000 Jahren dargestellt ist. Damit leben wir heute,<br />
geologisch gesehen, in einer Eiszeit. Der Ausdruck „<strong>Kleine</strong><br />
Eiszeit“ darf also nicht mit einer Eiszeit verwechselt werden,<br />
er ist nur für normale Temperatureinbrüche innerhalb einer<br />
Warmzeit zulässig. Der Wechsel Treibhaus – Eishaus (Warmphase<br />
– Kaltphase) bedeutet Pole ohne und Pole mit Eiskappen.<br />
Warm- und Kaltzeiten treten innerhalb einer Kaltphase<br />
(Eiszeit) auf, indem in der Warmzeit nur die unmittelbaren Polregionen<br />
vereist sind, während sich in Kaltzeiten auf der<br />
Nordhalbkugel die Inlandgletscher z. B. in Mitteleuropa bis<br />
50° N nach Süden ausbreiten.<br />
Mit der seit 2,7 Millionen Jahren währenden Vereisung beider<br />
Polkappen befindet sich unsere Erde in ihrer Geschichte in<br />
einer besonderen Situation. Zuvor war nur der Südpol vereist,<br />
eine Folge der Isolation des antarktischen Kontinents von dem<br />
Wärmeaustauscher Ozean.<br />
<strong>Die</strong> Vereisung der Polkappen stellt jedoch kein einmaliges Ereignis<br />
während der Erdgeschichte dar, hat die Erde doch seit<br />
600 Millionen Jahren vier Warm- und vier Kaltphasen (Treibhaus,<br />
Eishaus) durchlaufen. In der letzteren leben wir; diese<br />
als 4. Eiszeit bezeichnete Phase begann vor etwa 55 Millionen<br />
Jahren. Klimageschichtlich interessant ist, dass in der Erdgeschichte<br />
Kontinentalverschiebungen (Plattentektonik und<br />
Ozeanbodenspaltung), Gebirgsbildungen, Vereisungen der<br />
Pole und Hochgebirge sowie Meeresspiegelschwankungen<br />
miteinander gekoppelt waren und sind.<br />
Innerhalb der letzten circa 900.000 Jahre lässt sich ein fast<br />
regelmäßiger Klimawechsel in geologischen Archiven beobachten<br />
(8 Warm- und 8 Kaltzeiten), und zwar mit einer Periode<br />
von ca. 110.000 Jahren – in der Weise, dass auf eine<br />
Warmzeit von 15.000 bis 20.000 Jahren eine Kaltzeit von<br />
ca. 80.000 Jahren folgte. In dieser Zeit haben sich auf der<br />
Nordhalbkugel bei 65° N immer wieder Gletscher gebildet.<br />
<strong>Die</strong>se Zeitabschnitte hatte der jugoslawische Geowissen-<br />
56<br />
schaftler Milancovi˘c aus seinen Berechnungen als Bereiche<br />
besonderer solarer Strahlungsdefizite identifiziert. Moderne<br />
Untersuchungen in verschiedensten geologischen Archiven<br />
und astronomische Berechnungen haben die Vermutung bestätigt,<br />
dass sich dieSonneneinstrahlung periodisch durch die<br />
Veränderung der Exzentrizität der Erdbahn (100.000 Jahre<br />
Periode), der Neigung der Erdachse (41.000 Jahre Periode)<br />
und der Präzessionsbewegung der Erde (Kegel) (19.000 bis<br />
21.000 Jahre Periode) ändert, was bei Einstrahlungsminima<br />
zu Gletscherbildungen und somit zu Kaltzeiten führt. Bei Strahlungsgunst<br />
– wie wir das heute in unserer Zeit erleben – entsteht<br />
eine sogenannte Warmzeit.<br />
Seit ca. 11.660 Jahren leben wir in einer solchen Warmzeit,<br />
in der die Temperatur- und somit Klimaschwankungen bei weitem<br />
nicht so gravierend sind, wie im Übergang zwischen der<br />
Warm- und der Kaltzeit. Während der Kaltzeit lag die mitt-<br />
21 ka 10 ka 0 ka<br />
53 <strong>Die</strong> Eisverbreitung auf der Nordhemisphäre seit 21.000 Jahren (ka = eintausend Jahre)<br />
lere Jahrestemperatur in Europa um etwa 7 °C niedriger als<br />
heute.<br />
Jedoch gab es auch in der Warmzeit Variationen und Sprünge.<br />
So ist z. B. nachgewiesen, dass vor 8.200 Jahren ein<br />
deutlicher Temperatureinbruch stattfand. Betrachtet man die<br />
aus dem Eis Grönlands ermittelte relative Temperaturverlaufskurve<br />
der letzten 2.400 Jahre, so sind auffällige Schwankungen<br />
zu erkennen (Abb. 54). Zu römischer Zeit war es deutlich<br />
wärmer als heute, wie sich das auch aus den Gletschervorstößen<br />
in den Alpen ableiten lässt (Abb. 55). Weitere Klimaschwankungen<br />
werden als Mittelalterliches Klimaoptimum und<br />
„<strong>Kleine</strong> Eiszeit“ bezeichnet, die sich deutlich im Gesamtverlauf<br />
der relativen Temperaturkurve abbilden. Seit römischer<br />
Zeit fällt die Temperaturkurve bis in die Zeit der <strong>Kleine</strong>n Eiszeit<br />
(der absoluten Minimumzeit) ab, um danach im 19. und<br />
20. Jahrhundert bis zum heutigen Wert anzusteigen. Dabei<br />
hat der heutige Wert noch nicht die Temperaturen der römischen<br />
Zeit erreicht.<br />
Mit Beginn der „<strong>Kleine</strong>n Eiszeit“, soviel kann hier festgehalten<br />
werden, wurden die Winter im Durchschnitt länger und kälter;<br />
in den Gemälden der <strong>holländische</strong>n Maler spiegelt sich das<br />
in Winterlandschaften und Eisflächendarstellungen wider<br />
(vgl. Abb. 69ff).
54 Der Temperaturverlauf aus<br />
Eiskernen Grönlands<br />
(nach Muller & McDonald, 2000),<br />
(BC: Before Christ, AD: Anno Domini)<br />
55 Vorstoß- und Rückzugsphasen der Zunge<br />
des Großen Aletschgletschers während der<br />
letzten 3200 Jahre (Wanner et al., 2000)<br />
im Vergleich zum Temperaturverlauf der<br />
letzten 1000 Jahre (Abb. 51 und 54),<br />
(LIATE = Little Ice Age Type Events). yBP:<br />
years Before Present (Jahre vor<br />
heute, d. h. vor 1950)<br />
AD: Anno Domini<br />
warm<br />
kalt<br />
57
Kurzfristige Klimaschwankungen<br />
Im Vergleich zu den langperiodischen Klimazyklen der großen<br />
Eiszeiten sind Klimaschwankungen wie das Römische oder<br />
das Mittelalterliche Klimaoptimum und auch die „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“<br />
sehr kurzfristige Klimafluktuationen. Hier stellt sich also<br />
die Frage: Was verursacht solche kurzfristigen Klimaschwankungen?<br />
Eine weitere Frage drängt sich auf: Ist der heute apostrophierte<br />
Temperaturanstieg, speziell seit 1970, durch den Menschen<br />
verursacht? Hierzu kann man verschiedene Überlegungen<br />
anstellen.<br />
In geowissenschaftlichen Archiven sind neben den oben benannten<br />
langfristigen Milancovi˘c-Zyklen (100.000 Jahre,<br />
41.000 Jahre, 19.000 bis 23.000 Jahre) auch kürzerfristige,<br />
so genannte Sub-Milancovi˘c-Periodizitäten erkennbar, denen<br />
wahrscheinlich andere Ursachen als die Erdachsenneigung,<br />
Exzentrizität und Präzession der Erdbahn zugrunde liegen.<br />
<strong>Die</strong>se Periodizitäten scheinen wegen ihrer kurzen Frequenzen<br />
auf solare Strahlungsfluktuationen zu verweisen.<br />
Vergleicht man den Verlauf der Klimakurve mit der Sonnenfleckenaktivitätskurve,<br />
dann fällt das Minimum der „<strong>Kleine</strong>n<br />
Eiszeit“ mit dem sog. Maunder-Minimum, der minimalen<br />
Sonnenfleckenaktivitätszeit, zusammen (vgl. Abb. 51). Ähnliche<br />
Übereinstimmungen ergeben sich für Spörer- und Dalton-<br />
Minimum. Ist dieser Beleg auch nur statistischer Natur, so<br />
verweisen die Muster der kosmogenen Isotope 14 C und 10 Be<br />
auf eine klare Beziehung zur Aktivität des Solarwindes<br />
(Abb. 56).<br />
Ein weiterer Hinweis wird nun in unseren kontinentalen geologischen<br />
Archiven über die Reaktion der Flora auf die<br />
Schwankungen der Sonnenstrahlung gegeben. Speziell in Binnenseen<br />
ist eine deutliche Saisonalität der Planktonentwicklung<br />
mit ausgeprägten Algenblüten zu beobachten. <strong>Die</strong> Überreste<br />
dieser Diatomeen genannten Kieselalgen sinken nach<br />
der Blüte zum Seeboden und bilden zusammen mit anderem<br />
organischen und nichtorganischen Material eine Jahreslage<br />
(= Warve, Abb. 57), die aus mehreren Lagen, z. T. Jahreszeitenlagen<br />
besteht (Negendank et al. 1997). Anhand der<br />
Dicken dieser Jahresdiatomeenlagen erkennt man periodische<br />
Wechsel, die mit Hilfe komplexer, nichtlinearer mathematischer<br />
Zeitreihenanalysen Periodizitäten von 11, 22, 88, 210<br />
und 550 Jahren ergeben – Werte, die das Aktivitätsmuster der<br />
Sonnenfleckenaktivität nachzeichnen, ein statistischer Hinweis<br />
auf Beziehungen, deren physikalischer Mechanismus bisher<br />
unbekannt ist (Vos et al., 1997; Negendank et al.<br />
1997).<br />
Damit sind solche Algen sensible Organismen, die auf Gesamtstrahlungsänderungen<br />
reagieren und deshalb als Klima-<br />
Indikatoren dienen können.<br />
<strong>Die</strong> Variabilität des Klimas an einem Ort ist aber durch die<br />
Faktoren der internen Variabilität des Klimasystems, den<br />
natürlichen und anthropogenen Treibhausgasen und den oben<br />
erwähnten Antriebsmechanismen und ihrer Interferenz bestimmt.<br />
Verschiedenste Modellsimulationen für die letzten<br />
zweitausend Jahre kommen zu dem Ergebnis, dass bis etwa<br />
58<br />
1800 das Klima vor allem solar bestimmt wurde, von 1800<br />
bis etwa 1880 solar und vulkanogen, ab 1880 solar und anthropogen.<br />
Klimaarchiv Binnensee<br />
Zu den wichtigsten Arbeitsgebieten der Klimaforschung des<br />
GeoForschungsZentrums Potsdam (<strong>GFZ</strong>) gehört die Untersuchung<br />
jahreszeitlich geschichteter Sedimente aus Maarseen in<br />
verschiedensten Vulkangebieten der Erde (Deutschland, Italien,<br />
Frankreich, Israel, China etc.). <strong>Die</strong> heute wassergefüllten<br />
Vulkankrater (Maarseen) sind durch spezielle magmatische<br />
Eruptionen, nämlich Wasserdampfexplosionen, vor etwa<br />
70.000 bis 40.000 Jahren entstanden (Büchel, 1993). Durch<br />
die besondere Morphologie der Krater sind die Seen im Verhältnis<br />
zu ihrer Oberfläche sehr tief. Material, das vom Land<br />
eingetragen wird und im See entstandenes Material, z. B. organische<br />
Produktion von höheren und niederen Wasserpflanzen<br />
(Algen) und Tieren (Wasserflöhe, Mücken etc.), kommen<br />
nahezu störungsfrei zur Ablagerung am Seegrund. Dort<br />
herrscht aufgrund der Wassertiefe Sauerstoffarmut, die eine<br />
Besiedlung durch Bodenbewohner unmöglich macht. <strong>Die</strong> sedimentierten<br />
Lagen werden also nicht zerstört. Ereignisse wie<br />
die Frühjahrsblüte der Kieselalgen (Diatomeen), der Kalkfällung<br />
im Sommer, die Diatomeenherbstblüte und die winterlichen<br />
Ablagerungen von sehr feinkörnigem Material sind in<br />
ihrer Abfolge mikroskopisch und makroskopisch sichtbar und<br />
werden als die Ablagerung eines Jahres (Warve) zusammengefasst.<br />
Durch Zählen dieser Warven ist die Datierung der Sedimente<br />
möglich, d. h. der genaue Zeitpunkt der Entstehung<br />
einer Warve kann rekonstruiert werden (vgl. Abb. 57).<br />
Durch Herausstechen einer Säule aus diesem Sediment entweder<br />
mit einem Hohlrohr oder einem Stechschwert gewinnt<br />
man einen Sediment-Bohrkern, aus dessen Untersuchung die<br />
Ablagerungen zeitlich qualitativ und quantitativ bestimmt werden<br />
können. Ein solcher Sediment-Kern, der 1999 nahe dem<br />
Zentrum des Holzmaars (HZM 41/42 in Abb. 58) erbohrt<br />
wurde, umfasst beispielsweise Ablagerungen der letzten<br />
1000 Jahre. <strong>Die</strong> zeitliche Einordnung erfolgt durch Zählen<br />
der Warven unter dem Mikroskop. <strong>Die</strong>se Lagen sind im obersten<br />
(= jüngsten) Bereich im Schnitt 2 bis 3 mm dick. Mit zunehmender<br />
Sedimenttiefe, also zunehmendem Alter, nimmt<br />
deren Mächtigkeit infolge des Zusammendrückens durch die<br />
Auflast ab (Abb. 59, 60).<br />
<strong>Die</strong> einzelnen Jahreslagen bestehen hauptsächlich aus Diatomeen.<br />
Für die Bestimmung und Zählung der Diatomeen wurden<br />
aus dem Bohrkernmaterial Proben entnommen, die jeweils<br />
vertikal 0,5 cm des Sediments umfassen. Nach der spezifischen<br />
Aufbereitung für die Analyse konnten die Diatomeen<br />
unter dem Lichtmikroskop bei 1000-facher Vergrößerung bestimmt<br />
werden. Zählungen von mindestens 500 Algenschalen<br />
(sog. Valven) pro Probe ermöglichten die Einschätzung der<br />
prozentualen Zusammensetzung der Diatomeenvergesellschaftung.<br />
<strong>Die</strong>se ist summarisch in Abb. 61 für jede Probe, bezogen<br />
auf deren Alter, dargestellt.
56 Solarstrahlung und 14 C- und 10 Be-Isotopenverlauf<br />
(nach Lean & Rind, 1999)<br />
57 Jahreszeitlich geschichtete (= warvierte) Sedimente<br />
im Meerfelder Maar (Eifel), Dickenvariation der<br />
Warven, Dünnschliffaufnahme, Aufbau im Rasterelektronenmikroskop:<br />
in den feinen Streifen sind<br />
Veränderungen von Jahr zu Jahr und sogar der<br />
Wechsel der 5 Jahreszeiten dokumentiert. Unter<br />
dem Mikroskop zeigen sich feingeschichtete Lagen<br />
von Algenblüten.<br />
59
58 Lokation Holzmaar;<br />
a) Lage des Holzmaares; b) Tiefenlinien und Bohrlokation<br />
59 Bohrkampagne im Maarsee Lago Grande die Monticchio<br />
(Monte Vulture, Süditalien)<br />
60 Foto einer Schlammsäule, die aus einem Maarsee gezogen<br />
wurde. Zur zerstörungsfreien Bergung einer solchen<br />
geschichteten Probe wird das Material beim Stechen im<br />
Seeboden tiefgefroren.<br />
60<br />
Algenspezies und „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“<br />
<strong>Die</strong> besonderen klimatischen Bedingungen der nordhemisphärischen<br />
Abkühlung schafften die Voraussetzungen für das<br />
vermehrte Erscheinen einer speziellen Algenart. Untersuchungen<br />
im Holzmaar/Eifel zeigten, dass nur in der Zeit von 1285<br />
(Ende des Großen Maximums des Mittelalterlichen Klimaoptimums)<br />
bis 1850 die Diatomeenart Aulacoseira subarctica<br />
auftrat. Hinsichtlich ihrer ökologischen Ansprüche wird sie in<br />
der Bestimmungsliteratur (Krammer & Lange-Bertalot, 1991)<br />
wie folgt beschrieben:<br />
<strong>Die</strong> Kieselalge Aulacoseira subarctica ist eine häufige Diatomeenart<br />
nordisch-alpiner Teiche, Seen und langsam strömender<br />
Flüsse. Sie hat geringe bis mäßige Ansprüche an den<br />
Nährstoffgehalt des Gewässers. Mehrere Untersuchungen an<br />
dieser Art in verschiedenen Seen ergaben weitere Charakteristika:<br />
Aulacoseira subarctica ist an eingeschränkte Lichtverhältnisse<br />
angepasst. Erste Zellneubildungen sind deshalb bereits<br />
früh im Jahr, bzw. noch unter der tauenden winterlichen<br />
Eisbedeckung möglich. Als Spätwinter-Blüher gibt daher<br />
diese Algenart über ihr Wachstum Auskunft über die Umweltbedingungen<br />
insbesondere zu Winterende/Frühjahrsanfang.<br />
Zur Photosynthese ist es nötig, dass die Algen nahe der Oberfläche<br />
im Wasser schweben. <strong>Die</strong> Zellen von Aulacoseira subarctica<br />
leben über Verbindungsdornen aneinandergeheftet in<br />
Ketten (Abb. 62). Dadurch ist das Oberfläche/Masse-Verhältnis,<br />
und damit der Auftrieb, vergrößert und das Schweben in<br />
der Wassersäule besser möglich. Unterstützend wirken leichte<br />
Turbulenzen im Wasser. <strong>Die</strong>se können insbesondere durch<br />
den Einfluss zunehmender Windstärke, wie sie z. B. bei Frühjahrsstürmen<br />
auftreten, erzeugt werden.<br />
Eine Recherche zum heutigen Vorkommen der Art ergab die in<br />
Abb. 63 dargestellten Nachweise, die, bezogen auf die<br />
Nordhalbkugel, entweder nördlich 50° N, in alpinen Seen<br />
oberhalb 800 m ü. NN oder im Winterplankton von Seen<br />
gemäßigter Breiten liegen.<br />
Aus den Untersuchungen der Sedimentabfolge im Holzmaar<br />
haben sich folgende Indizien ergeben, die als Reaktionen auf<br />
phasenhaft kühlere Bedingungen in Verbindung mit der „<strong>Kleine</strong>n<br />
Eiszeit“ gewertet werden:<br />
– zum Teil massenhaftes Vorkommen der nordisch-alpinen, an<br />
eingeschränkte Lichtzufuhr angepasste Diatomee Aulacoseira<br />
subarctica,<br />
– sprunghafte Veränderungen in der Menge der insgesamt im<br />
Sediment gefundenen Diatomeenvalven,<br />
– sprunghafte Veränderungen der Häufigkeiten der dominierenden<br />
Diatomeenarten.
61 Entwicklung der Diatomeenflora und der Nährstoffverfügbarkeit während der letzten 1000 Jahre<br />
im Holzmaar (Eifel), rekonstruiert aus Sedimentkernen<br />
62 Algenart Aulacoseira subarctica (O. Müller) Haworth 1988. <strong>Die</strong> Zellen leben über Verbindungsdornen<br />
an den Gehäusen (Frusteln) aneinandergeheftet in Form von Ketten.<br />
P a c i f i c O c e a n<br />
w<br />
a<br />
w<br />
Verbindungsdornen<br />
A t l a n t i c O c e a n<br />
Seen in denen heute Aulacoseira subarctica nachgewiesen ist:<br />
Seen nördlich 50° N<br />
Seengebiete nördlich 50° N<br />
a alpine Seen oberhalb 800 m ü. NN<br />
w Seen gemäßigter Breiten, in denen Aulacoseira subarctica nur im Winterplankton auftritt<br />
Indian Ocean<br />
63 Häufige Verbreitung von Aulacoseira subarctica in Seen der Nordhalbkugel<br />
a/w<br />
a<br />
61
Windrichtung und Klima<br />
Das Auftreten der Kieselalge Aulacoseira subarctica gibt uns,<br />
wie oben dargestellt, einen Hinweis auf niedrige Temperaturen,<br />
eingeschränkte Sonnenstrahlung und erhöhte Windgeschwindigkeiten.<br />
Auch in den Gemälden der <strong>holländische</strong>n<br />
Meister findet sich das Klimaelement Wind wieder. Holland<br />
liegt im Westwindgürtel unseres Planeten. Besonders in<br />
Küstennähe und in windexponierten Lagen sind häufig Bäume<br />
und Sträucher zu beobachten, die sich – dem ständig wehenden<br />
Wind folgend – verformt haben. <strong>Die</strong>se so genannten<br />
„Windflüchter“ sind auf dem Gemälde „Holländische Landschaft<br />
mit Raubzug“ von Salomon van Ruysdael (Abb. 66)<br />
markant dargestellt. Der Klimaparameter „Wind“ hat hier der<br />
Landschaft deutlich seinen Stempel aufgesetzt, die Bäume und<br />
Sträucher sind nach rechts gekippt, der Hauptwindrichtung<br />
entsprechend.<br />
Interessant ist weiterhin der Baum im Vordergrund, dessen<br />
nach links oben weisender Stamm abgebrochen ist – offensichtlich<br />
Windbruch. Ikonographisch werden solche Bäume,<br />
die u.a. auch bei Ruisdael und Hobbema auftauchen, als Vanitassymbol<br />
interpretiert. Windbruch als Zeichen für Vergänglichkeit<br />
eines Symbols der Stärke, i.e. eines Baumes lässt sich<br />
leicht erklären mit der Zunahme von Starkwinden und Stürmen<br />
im Gefolge der „<strong>Kleine</strong>n Eiszeit“.<br />
64 Schematischer Aufbau der Diatomeenschale oder Frustel<br />
65 Schematischer Aufbau einer Warve im Sediment des<br />
Holzmaars (nach Rein, 1996)<br />
62<br />
Glossar<br />
Diatomeen: Diatomeen sind einzellige Algen im Größenbereich<br />
von wenigen µm bis 2 mm, deren Zellwand im wesentlichen<br />
aus Siliziumdioxid besteht. <strong>Die</strong>se Diatomeenschalen<br />
nennt man Frusteln (Abb. 64). Sie bestehen aus zwei unterschiedlich<br />
großen Teilen, die schachtelförmig oder wie Deckel<br />
und Boden einer Petrischale aufeinandergesetzt erscheinen.<br />
Der Deckel (der größere, obere Teil) wird als Epitheka, der Boden<br />
(der kleinere, untere Teil) als Hypotheka bezeichnet. <strong>Die</strong><br />
in Aufsicht erkennbaren Flächen nennt man Valven. In Seitenansicht<br />
sieht man den Gürtel (das Gürtelband), der nach dem<br />
Absterben der Zelle meist in einzelne Segmente zerfällt. Im Sediment<br />
sind deshalb meist nur die Valven zu finden.<br />
Diatomeen haben ihr Hauptverbreitungsgebiet in den Weltmeeren,<br />
wo sie in großer Artenvielfalt planktonisch (schwebend<br />
in der Wassersäule) leben. An den Meeresküsten und im<br />
Süßwasser der Flüsse und Seen kommen auch am Boden lebende<br />
(benthische) und am Substrat angeheftete Arten vor.<br />
<strong>Die</strong>se Differenzierung ist in erster Linie auf die autotrophe, an<br />
das Licht gebundene, Ernährung der Diatomeen zurückzuführen.<br />
Neben dem Licht benötigen die Diatomeen auch Nährstoffe,<br />
von denen Phosphor, Stickstoff und Silizium die wichtigsten<br />
sind. <strong>Die</strong> verschiedenen Arten haben unterschiedlich<br />
hohe Nährstoffansprüche.<br />
Nach dem prinzipiellen Bauplan der Diatomeen unterscheidet<br />
man die Centrales mit kreisförmigem Grundriss und radialer<br />
Symmetrie, zu denen u. a. die Cyclotellen gehören und die<br />
Pennales mit langgestreckter Form, zu denen z. B. die Fragilarien<br />
zählen.<br />
Warve: Der Begriff Warve stammt vom schwedischen "Varv”<br />
(=Schicht), der zu Beginn des 19. Jahrhunderts von De Geer<br />
(1912) für jährliche Seeablagerungen aus Schmelzwässern<br />
benutzt wurde. <strong>Die</strong> Grunddefinition bezieht sich also auf Warven,<br />
die aus Sand-Ton bestehen, somit klastische Warven genannt<br />
werden. Sie sind typisch für kalte Klimagebiete, so z. B.<br />
in proglazialen Seen, d. h. Seen vor dem Inlandeisgletscher.<br />
<strong>Die</strong> Warven jedoch, die in der heutigen Warmzeit in humiden<br />
und auch ariden Gebieten entstehen, sind als organogene<br />
und evaporitische Warven bzw. Mischformen ausgebildet. So<br />
sind z. B. die Warven des Holzmaares im wesentlichen durch<br />
die Ablagerung der Diatomeenblüten bestimmt mit zusätzlichem<br />
klastischen Eintrag im Winter und z. T. chemische Fällungen<br />
wie die Kalzitkristalle im Sommer (Abb. 65). In ariden<br />
Gebieten beherrschen dagegen chemische Fällungsprozesse<br />
die Warvenbildung (Heim et al., 1997, Ben Avraham et al.,<br />
1999).<br />
Zirkulation: In der Limnologie versteht man unter Zirkulation<br />
die großräumige Umwälzung der Wassermasse eines Sees<br />
von der Oberfläche zur Tiefe bei Temperaturgleichheit durch<br />
den Wind als Antriebsenergie.
66 Salomon Jacobsz van Ruysdael<br />
1600/03 Naarden – 1670 Haarlem<br />
Holländische Landschaft mit Raubzug<br />
1656<br />
Lw., 107,5 x 150,2 cm<br />
Bez. unten in der Mitte: S VRUYSDAEL 1656 (VR verbunden)<br />
Erworben 1870<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 901B<br />
63
Was den Winter vor allen anderen Jahreszeiten auszeichnet,<br />
ist das grundsätzlich veränderte Gesicht der landschaftlichen<br />
Erscheinung. Denn „wirklich“ Winter ist erst dann, wenn er<br />
sein „Kleid“ anzieht, mit Schnee die Landschaft bedeckt und<br />
wenn das Wasser, Urelement des Lebens, den festen Aggregatzustand<br />
annimmt. Dann erhält die Tristesse des Winters<br />
vorübergehend ein strahlendes Weiß, dann werden Fluss und<br />
See zu begehbaren Weiten und eröffnen neue Perspektiven<br />
und Handlungsräume.<br />
<strong>Die</strong> Faszination des Winters, festgehalten in Zeichnung, Graphik<br />
und Malerei, wurde ausgehend von flämischen Vorläufern<br />
im 17. Jahrhundert zu einer <strong>holländische</strong>n Domäne. Den<br />
Landschaftsdarstellungen liegt die entdeckende Erfahrung der<br />
Natur zugrunde, was aber mit einer Darstellung der realen<br />
Erscheinung und über sie hinaus zur Mitteilung gelangt, wird<br />
zur interessanten Frage an das Kunstwerk, die im folgenden<br />
an eine Auswahl von Winterlandschaften der Berliner Gemäldegalerie,<br />
ergänzt durch Leihgaben aus Privatbesitz und<br />
Zeichnungen aus dem Kupferstichkabinett Berlin, gerichtet<br />
wird.<br />
Erst im Laufe der längeren Entwicklungsgeschichte der Landschaftsmalerei<br />
wurde hinsichtlich der vier Jahreszeiten differenziert.<br />
Erste Winterlandschaften finden sich unter den Monatsbildern<br />
der Stundenbücher des 15. Jahrhunderts oder bei<br />
Darstellungen, die sich den Arbeiten zu verschiedenen Jahreszeiten<br />
widmen. <strong>Die</strong> Natur wird in ihrem zyklischen<br />
Charakter zur Ansicht gebracht und als Tätigkeitsfeld des<br />
Menschen für Arbeit und Vergnügen gesehen. Etwa gleichzeitig<br />
werden in der religiösen Malerei die in den Winter fallenden<br />
Ereignisse auch in eine Winterlandschaft gestellt. Selten<br />
jedoch die Geburt Christi, sie wird wegen ihres freudigen<br />
Charakters gerne in den Frühling verlegt. Im Verlauf des<br />
15. Jahrhunderts bildet sich die Winterlandschaft als eigenständiges<br />
Genre aus den Serien der Monats- und Jahreszeitenbilder<br />
heraus. Oft allerdings verbleibt die Winterlandschaft<br />
noch im Hintergrund, während winterzeitlich gebundene<br />
religiöse, historische oder Genrethemen Vorrang haben.<br />
Maßgeblichen Anteil an der Entwicklung tragen die Maler der<br />
südlichen Niederlande: Hugo van der Goes, Pieter Bruegel<br />
d. Ä., Jan Bruegel d. Ä., Denis van Alsloot, Joos de Momper,<br />
Esaias van de Velde und nicht zuletzt Lucas van Valckenborch.<br />
Der aus den Niederlanden ausgewanderte LUCAS VAN VALCKEN-<br />
BORCH wendete sich in seinen letzten Lebensjahren einem zu-<br />
64<br />
Eisvergnügen und andere Lebenswirklichkeiten<br />
Bedeutungsebenen <strong>holländische</strong>r Winterlandschaften<br />
Michael Budde<br />
vor von ihm nicht behandelten Thema zu, der Jahreszeitenallegorie<br />
als Markt-, Früchte- oder Erntebild. 1 Das Gemälde<br />
„Der Winter“ (Abb. 67) stammt aus einer solchen Jahreszeitenfolge.<br />
Es trägt sein Monogramm LVV und die Jahreszahl<br />
[15]95 auf dem Fischtrog unten links. Damit gehört das<br />
Gemälde in seine Frankfurter Schaffenszeit, denn ab 1593<br />
war er als Bürger in Frankfurt am Main ansässig. Allem Anschein<br />
nach war die Valckenborchsche Produktion in Frankfurt,<br />
die man sich als erfolgreichen, großen Werkstattbetrieb<br />
unter Lucas’ Oberleitung vorzustellen hat, sehr umfangreich. 2<br />
Acht Marktbilder solcher Serien von Jahreszeitenallegorien<br />
sind bekannt, darunter auch eine in den Details abweichende<br />
Zweitfassung dieses Fischmarktes. 3<br />
Das Motiv des Fischverkaufs ist traditionsgemäß Hinweis auf<br />
das Tierkreiszeichen „Fische“, das zu den drei Zeichen des<br />
Winters gehört. Der Fluss im Hintergrund deutet an, woher die<br />
Schätze kommen, die angeboten werden. Wie anhand eines<br />
Stiches von M. Merian nachgewiesen werden konnte, ist der<br />
Stadthintergrund eine freie Variation des St. Leonhardskais in<br />
Frankfurt. 4<br />
<strong>Die</strong> Dominanz des trivial Gegenständlichen der Marktsituation<br />
als buchstäblich vordergründiges Thema der Jahreszeitendarstellung<br />
muss im Zusammenhang mit der prosperierenden<br />
wirtschaftlichen Situation der Zeit gesehen werden. „In<br />
dem Maße, in dem in der okzidentalen Gesellschaft zum<br />
ersten Mal tendenziell eine ,Entzauberung‘ (Max Weber) der<br />
Religion stattfand, erhielten die Waren eine besondere Ausstrahlung,<br />
wurden sie zu fast (und manchmal auch tatsächlich)<br />
libidinös besetzten Fetischen, von denen eine magische Wirkung<br />
auszugehen schien.“ 5<br />
Der ostentativ aufgetürmte Reichtum an Fischen und dazu das<br />
bereits erworbene Fleisch im Korb der Damen kann zu der<br />
Annahme verleiten, die Bevölkerung müsse damals mit<br />
Nahrungsmitteln bestens versorgt gewesen sein. „Tatsächlich<br />
wurde zwar die Marktquote erheblich vermehrt, sie konnte<br />
aber die Nachfrage der städtischen Bevölkerung, die im Verhältnis<br />
zu ihrem Einkommen für die landwirtschaftlichen<br />
Produkte überhöhte Preise zahlen mußte, nicht decken.“ 6<br />
Ein wenig mag bei all dem Überfluss noch die Mahnung eines<br />
niederländisches Sprichwortes mitklingen: De goederen dezer<br />
wereld zijn gelijk aan sneeuwvlokken, die de oogen verblinden,<br />
en weldra versmelten (<strong>Die</strong> weltlichen Güter sind wie<br />
Schneeflocken, die die Augen blind machen und augenblicklich<br />
schmelzen).
67 Lucas van Valckenborch<br />
Um 1535 Löwen – 1597 Frankfurt/Main<br />
Der Winter<br />
1595<br />
Lw., 121,5 x 191,3 cm<br />
Bez. links unten am Fischtrog: [15]95/L/VV<br />
Leihgabe aus Privatbesitz<br />
65
68 Hendrick Avercamp<br />
1585 Amsterdam – 1634 Kampen<br />
Winterlandschaft mit Schlittschuhläufern (Detail)<br />
Lw., 24 x 38 cm<br />
Puschkin Museum, Moskau<br />
HENDRICK AVERCAMP war der erste und bedeutendste Vertreter<br />
des frühen, eigenständigen <strong>holländische</strong>n Winterbildes. Für<br />
den Norden der Niederlande löste Avercamp das Winterbild<br />
aus dem religiösen Zusammenhang und dem der Jahres- bzw.<br />
Monatsfolgen, behält aber zum Teil allegorische Aspekte bei.<br />
Weil Avercamp wohl taubstumm war, trug er den Beinamen<br />
„De Stomme van Kampen“. Möglicherweise schärfte seine<br />
Taubheit den Blick für das Wesen und Verhalten der Menschen,<br />
das in seinen Gemälden wie Zeichnungen immer wieder<br />
treffend zum Ausdruck kommt. Avercamp arbeitete in dem<br />
Landstädtchen Kampen an der Zuider Zee. Seine nach den<br />
Frühwerken ab etwa 1615 entstandenen Meisterwerke lassen<br />
bei einem tiefen Blickpunkt die Nuancen der Luftperspektive<br />
wirksam werden und im Hintergrund nicht selten die Türme<br />
von Kampen erkennen.<br />
<strong>Die</strong> aquarellierte Federzeichnung Avercamps aus dem Kupferstichkabinett<br />
Berlin zeigt das „Leben auf dem Eise bei Sonnenuntergang“<br />
(Abb. 69). 7 Eine belebte Schlittenfahrstraße<br />
zieht sich von links in die Bildtiefe. Hauptmotiv ist ein von<br />
einem Kutscher gelenkter, mit zwei Damen besetzter, reichgeschmückter<br />
Pferdeschlitten. Zahlreiche Einzelszenen beleben<br />
die Eisfläche. Winterspezifische Tätigkeiten werden über die<br />
ausführenden Personen erzählt. So links am Bildrand ein Jäger<br />
mit Gewehr, am Gürtel das Pulverhorn und eine erlegte<br />
Ente als Beispiel der Winterjagd. Alle Schichten und Altersstufen<br />
vom Kind bis zum Greis tummeln sich auf der Eisfläche.<br />
In der Ferne mahnt ein Galgen an Gerechtigkeit und Tod.<br />
66<br />
Seitlich an den Fluchtlinien rahmen festgefrorene Schiffe die<br />
Szene. Wie inhaltlich die Bildgrenzen markiert werden, muss<br />
so drastisch geschrieben werden, wie es gezeichnet ist:<br />
Rechts im Bild scheisst einer ins Gras, während links ein<br />
anderer gegen den Bootsrumpf pinkelt. Beziehungsreiche<br />
Motive, die in der niederländischen Kunst dieser Zeit nicht<br />
selten zu finden sind. Sie weisen aber auch schlicht auf<br />
Entsorgungsprobleme bei oft langfristig gefrorenen Wasserläufen<br />
hin.<br />
<strong>Die</strong> gleichmäßig verteilten, marionettenhaft bewegten, parallel<br />
zu den großen Kompositionslinien aufgereihten Figuren<br />
wirken etwas unbeholfen und naiv, sie sind noch nicht wirklich<br />
mit der Landschaft zu einer Einheit verschmolzen. Dennoch<br />
haben sie nicht nur stimmungsbildende Funktion, sondern<br />
auch wesentlich sinndeutenden Charakter.<br />
In der zentralen Vordergrundszene bringt Hendrick Avercamp<br />
oft ein sozialkritisches Thema zur Darstellung: Arm und Reich<br />
treffen aufeinander. In der Zeichnung des Kupferstichkabinetts<br />
ist es ein in Lumpen gekleideter Mann, der im Blickkontakt zur<br />
reichen Gesellschaft im Prunkschlitten steht. <strong>Die</strong> gleiche Szene<br />
spielt sich auf einem Gemälde ab, das sich in Privatbesitz befindet.<br />
Dem Bild liegt insgesamt ein grundsätzlich gleiches<br />
Kompositionsschema zugrunde. Viele Motive, wie der Galgen<br />
im Hintergrund, der Jäger mit erlegter Ente und eben auch der<br />
Bettler neben dem reich geschmückten Pferdeschlitten finden<br />
sich hier wieder. 8 Ein Gemälde Avercamps im Rijksmuseum<br />
Amsterdam zeigt in der vorderen Mitte der Menschenmenge<br />
einen Bettler am Stab. Er hält die Hand auf, um Almosen von<br />
der neben ihm stehenden aufgeputzten Bürgergruppe zu erhalten.<br />
9 Sehr feinsinnig kreuzen sich die Gegensätze in einer<br />
Winterlandschaft aus dem Moskauer Puschkin Museum. Nah<br />
hinter der Gruppe der betuchten Bürger in der Bildmitte steht<br />
frierend ein sich die Hände warm hauchender, schlecht bekleideter<br />
Junge. Geschickt positioniert, überschneidet sein<br />
Holzschläger (damals war ein golfähnliches Spiel sehr beliebt)<br />
den Degen des Reichen (Abb. 68). 10<br />
Avercamp porträtiert hier keinesfalls die Freizeit-Gesellschaft<br />
des siebzehnten Jahrhunderts, auch wenn die Menschen auf<br />
dem Eis pauschal das farbenfrohe Bild einer vergnügten Menge<br />
bieten. Es ist auch weniger ein abbildender Bericht aus<br />
dem Leben, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, sondern<br />
vielmehr eine Art Zusammensetzspiel aus vielen Fragmenten<br />
und Skizzen, die dem Werk vorausgegangen sind und die zu<br />
verschiedenen Zeiten und sicher auch an verschiedenen Orten<br />
entstanden sind. Dadurch ergibt sich gewissermaßen ein idealisiertes<br />
Porträt einer Gesellschaft, wobei die Anordnung der<br />
Figuren wie der Farben durchweg bis ins Detail geplant sind.<br />
Darüber hinaus bietet das Werk versteckte allegorische Anspielungen<br />
auf das Verhältnis des Menschen zur Welt, verbunden<br />
mit einem ironischen Seitenblick, der vor Selbstüberschätzungen<br />
warnt und bei allem glatten Eis Bodenständigkeit<br />
mit dem Blick auf die Realitäten des Lebens einfordert. Eines<br />
der Grundthemen der <strong>holländische</strong>n Landschaftsmalerei, die<br />
Interpretation der Landschaft als Lebensraum des Menschen,<br />
fand hier frühzeitig überzeugende Verwirklichung.
69 Hendrick Avercamp<br />
1585 Amsterdam – 1634 Kampen<br />
Leben auf dem Eise<br />
Aquarell und Feder, 274 x 400 mm<br />
Erworben 1874<br />
Berlin, Kupferstichkabinett, KdZ 2230<br />
67
Einer der ersten Darsteller nordniederländischer Winterlandschaften<br />
ist auch ADAM VAN BREEN, seine Werke verraten deutlich<br />
den Einfluss von Hendrick Avercamp und David Vinckboom.<br />
Möglicherweise wurde er bei wenigstens einem von<br />
beiden zu Anfang des 17. Jahrhunderts in Amsterdam ausgebildet.<br />
Bekannte Daten aus seinem Lebenslauf lesen sich abenteuerlich:<br />
1611 heiratet Breen in Den Haag, von 1612 bis<br />
1621 gehört er dort der Lukasgilde an. In den Jahren<br />
1615–1617 wird er wiederholt in den gerichtlichen Akten der<br />
Stadt erwähnt. Ab 1622 ist er in Amsterdam ansässig und ein<br />
Konkursantrag wird beim Hohen Rat der Stadt genehmigt. Der<br />
darauf folgenden ersten Auswanderung nach Norwegen<br />
schließt sich nach kurzer Rückkehr in die Stadt Amsterdam<br />
(1628–1629) mit erneutem Konkurs die zweite an. Breen<br />
stirbt in Norwegen, sein genaues Todesjahr nach 1642 ist unbekannt.<br />
11<br />
<strong>Die</strong> biographischen Notizen geben entscheidende Hinweise<br />
für seine Winterlandschaften, da diese zwischen 1611 und<br />
1618 datiert werden, somit alle in Den Haag entstanden sind.<br />
Das Berliner Gemälde „Wintervergnügen“ (Abb. 70) schildert<br />
buntes Leben und Treiben auf dem Eis, eine schlittschuhlaufende<br />
Gesellschaft, teilweise als Anspielung auf törichtes Treiben im<br />
Kontext des emblematischen Deutens solcher Motive, wie auch<br />
das gesetztere Gebaren elegant gekleideter Bürger, deren Darstellung<br />
annähernd porträthafte Züge gewinnt. <strong>Die</strong>s kontrastiert<br />
zum stark verästelten Baum ohne Blätter als Mahnmal des Vergänglichen<br />
vor dem Hintergrund von Stadt und Kirche.<br />
Deutlicher als im Berliner Gemälde tritt die Vanitassymbolik in<br />
einer signierten und 1611 datierten Winterlandschaft Breens<br />
im Rijksmuseum Amsterdam hervor, das rechts vorn im Bild ein<br />
halb im Eis versunkenes Boot wiedergibt und dazu einen Tierschädel<br />
nebst Knochen, der von einem erschrockenen eislaufenden<br />
Paar bemerkt wird. 12 Ein solcher Schädel trägt jedoch<br />
nicht allein diesen Symbolwert, belegt er doch zugleich den<br />
Winter als traditionelle Schlachtzeit und die Verwendung<br />
von zusammengesetzten Rinderbackenknochen als Gleitdornschlitten,<br />
wie sie bereits Jan Bruegel des Öfteren zeigte.<br />
Der schon angesprochene Porträtcharakter der Personen in<br />
Breens Werk ist nicht von der Hand zu weisen. Entsprechend<br />
notiert allein der Berliner Gemäldegaleriekatalog von 1875:<br />
„Unter den Figuren im Vordergrunde der Prinz Moritz von<br />
Oranien mit Gefolge.“ 13 Nicht gänzlich abwegig; seine modisch<br />
gekleideten Figuren können sehr wohl Höflinge sein, die<br />
die Freuden des Winters genießen. 14 Tatsächlich hat sich ein<br />
1618 datiertes Gemälde Breens erhalten, das die Ansicht<br />
vom Vijverberg in Den Haag mit dem Prinzen Moritz und<br />
großem Gefolge beim Winterspaziergang zeigt; eine interessante<br />
Kombination von Winterbild, Stadtansicht und Porträt. 15<br />
Breen führt auch die höfische Gesellschaft auf’s Glatteis!<br />
Drei Paare im Vordergrund stehen amüsiert um eine kleine Person<br />
auf Krücken. Es ist wohl ein Hofnarr, der seinen Betrachtern<br />
im eigenen Dasein den Spiegel vorhält. Doch scheinen<br />
sie nicht zu erkennen, dass sie sich selbst wie die „Affen auf<br />
dem Eis“ gebaren, so der Titel einer um 1590 entstandenen<br />
Radierung von Pieter van der Borcht, der Affen anstelle von<br />
Antwerpener Bürgern auf dem Eis laufen lässt. Dazu heißt es<br />
in der niederländischen Beischrift: „Elck glibbert hier van<br />
68<br />
best, elck wilt den hane maken ...“ (Jeder rutscht hier nach bestem<br />
Vermögen, jeder will den Hahn machen, d. h. übermütig<br />
daherstolzieren). Der Moral dieser Graphiken war man sich<br />
sicher noch zu Anfang des 17. Jahrhunderts bewusst. 16 Mit<br />
ihrem Hofnarren bereitet Adam van Breen der Gesellschaft<br />
ein durchaus ironisch reflektiertes Eislaufvergnügen.<br />
<strong>Die</strong> zumeist kleinformatigen Bilder des JAN VAN GOYEN zählen<br />
zu den höchsten Leistungen der <strong>holländische</strong>n Landschaftsmalerei.<br />
Natureindrücke, die er auf seinen Reisen in einer<br />
Vielzahl von Zeichnungen festhielt, verwandelte er in seinen<br />
Gemälden in eine höhere Wirklichkeit. Da bereits sein Vater<br />
eine besondere Vorliebe für die Zeichen- und Malkunst hatte,<br />
war er damit einverstanden, dass sein Sohn Künstler werden<br />
sollte. Nach Lehrzeiten in Leiden und Haarlem, zuletzt bei<br />
Esaias van de Velde, und einer Studienreise durch Frankreich,<br />
ließ er sich 1632 in Den Haag nieder. Neben der Malerei<br />
war van Goyen auch in andere Geschäfte verwickelt. Spekulationen<br />
im Immobiliengeschäft und auch in solche mit „Tullipaenen<br />
bollen“ (Tulpenzwiebeln) trieben ihn in den wirtschaftlichen<br />
Ruin. Er verlor seinen Besitz und starb 1657<br />
zahlungsunfähig mit einer Schuldenlast von mindestens<br />
18.000 Gulden. 17<br />
<strong>Die</strong> in den Jahren 1620 bis 1626 entstandenen Gemälde gelten<br />
als Frühwerke innerhalb seines Œuvres. Gemälde aus<br />
dieser Zeit sind häufig als Sommer-Winter Pendants entstanden<br />
und auch zusammengehörig überliefert, wie das Paar der<br />
Berliner Gemäldegalerie aus dem Jahr 1621 (Abb. 71, 72).<br />
Mit dieser Themenverbindung knüpft van Goyen an die alten<br />
flämischen Jahreszeiten-Landschaften an. In gleicher Tradition<br />
steht das kleine, runde Format, das einen besonderen Zusammenhalt<br />
der Komposition gewährleistet. 18 Gemälde dieser<br />
Gruppe variieren im Durchmesser zwischen 10 und 68,5 cm.<br />
Das früheste Exemplar ist auf 1620 datiert, das letzte bekannte<br />
auf 1650. <strong>Die</strong> meisten dieser Kabinettbilder entstanden<br />
jedoch vor 1630. Beck verzeichnet noch 60 Rundbilder<br />
im Werkkatalog, eine Menge, die auf rege Nachfrage<br />
schließen lässt. 19<br />
Eine Bogenbrücke im Mittelgrund der Winterlandschaft verbindet<br />
die Ufer eines schmalen Stadtgrabens. Rechts markiert<br />
ein turmbewehrter Torbau mit Nebengebäude die Stadtgrenze,<br />
links am Ende des Weges zeigen sich Häusergiebel zwischen<br />
entlaubten Bäumen. Betriebsam geht es nur auf dem<br />
Wassergraben zu. Schlittschuhläufer und vorn ein schlittenfahrendes<br />
Paar prägen die Szene. Zuschauer stehen auf der<br />
Brücke, am Wegesrand und Ufer. Alles konzentriert sich auf<br />
die Eisfläche. Hier spielt sich das Leben ab, nicht mehr wie gewohnt<br />
im fließenden, jetzt auf dem gefrorenem Wasser. Das<br />
innerbildliche Betrachtungsgeschehen erscheint als Vorgabe<br />
zur Bildrezeption, die Eigenheiten des Winters wahrzunehmen.<br />
Im Wesentlichen zeigt van Goyen nur die durch das Eis<br />
entstandene Irritation als Winterelement. Wiedergabe von<br />
Dunst, Nebel, Reif und Schnee, die seine späteren Werke<br />
kennzeichnen, fehlen noch.<br />
<strong>Die</strong> drei Winterlandschaften van Goyens der Gemäldegalerie<br />
Berlin geben einen Querschnitt durch die Stilphasen des<br />
Künstlers. Nach den frühen Jahreszeitenminiaturen, bei denen
70 Adam van Breen<br />
Um 1585 Amsterdam – nach 1642 Norwegen<br />
Wintervergnügen<br />
Um 1615<br />
Eichenholz, 40 x 57,7 cm<br />
Erworben 1874<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 760A<br />
69
die atmosphärische Stimmung im Bildgeschehen noch keine<br />
Rolle spielt, liegt mit der Eislandschaft von 1643 (Abb. 73) ein<br />
Werk aus der Periode der „absoluten Tonigkeit“ vor. <strong>Die</strong><br />
feuchte, dunstgetränkte Luft verdrängt die Lokalfarben aus der<br />
Landschaftsszenerie zugunsten einer malerischen, tonigen<br />
Färbung. Einzelheiten verlieren sich und verschwimmen im<br />
zarten, nebeligen Dunst der Ferne, die sich mit der Atmosphäre<br />
harmonisch verbindet. 20 „Zu Beginn der 40er Jahre<br />
wendet sich van Goyen von der ,naturalistisch-realistischen‘<br />
Naturschilderung ab und transponiert unter dem Eindruck der<br />
künstlerischen Vision die Lokalfarben zu einem eigenen,<br />
neuen, nuancenreichen Farbenspiel.“ 21 Von gelblichem und<br />
bräunlichem Schimmern durchleuchtetes Grau verleiht der<br />
Winterszene ein Höchstmaß an Einheit. Geschickt platziert<br />
van Goyen im Zentrum vorne einen gestürzten Jungen, der<br />
seine Mütze verloren hat. Dadurch ist der Blick in die Tiefe der<br />
Landschaft freigegeben auf die Kirche in der Ortschaft am Horizont.<br />
Auch wenn zahlreiche Personen die Eisflächen beleben,<br />
den Darstellungsinhalt bildet nicht die erzählerische<br />
Mannigfaltigkeit der Figurenmotive, sondern das Erlebnis von<br />
Raum, Licht und Atmosphäre. 22 <strong>Die</strong> Tonigkeit der Farbgebung<br />
ist das Medium, in das die Naturdinge, die Menschen und die<br />
Ansicht der Stadt eintauchen.<br />
Um 1650 entwickelte van Goyen gleich anderen Landschaftsmalern<br />
eine repräsentativere Bildauffassung, die bei aller<br />
Tonalität eine intensivere Farbigkeit zeigt. Das Gemälde „Eisvergnügen<br />
vor einem Wirtshaus“ (Abb. 74) gehört in diese<br />
Phase. Zweimal ist es mit dem Entstehungsjahr 1650 bezeichnet.<br />
„<strong>Die</strong> strenge Geschlossenheit der Komposition im<br />
annähernd quadratischen Bildformat und die nirgends unvermittelt<br />
sachbezogene, sondern stets atmosphärisch gebundene<br />
Farbigkeit sind deutliche Kennzeichen von van Goyens<br />
Spätstil.“ 23<br />
Links im Mittelgrund zwischen kahlen Bäumen steht das Wirtshaus,<br />
davor auf dem gefrorenen Flussufer drängen sich Schlittschuhläufer,<br />
Spaziergänger, Schlittenfahrer und Kolfspieler.<br />
Kolf gehörte damals zu den beliebtesten Eisvergnügen in<br />
Holland. Es war der Vorläufer des modernen Golf und in gewissem<br />
Sinne auch des Eishockeys. Im 17. Jahrhundert wurden<br />
zwei Varianten gespielt: entweder versuchte man ein festgesetztes<br />
Ziel, einen Stecken im Eis, anzuspielen oder eine<br />
größtmögliche Distanz mit einer begrenzten Anzahl von<br />
Schlägen zu erreichen. 24<br />
ISACK VAN OSTADE inszenierte vermutlich um 1645 eine Winterlandschaft<br />
(Abb. 75), die als poetisches Stimmungsbild<br />
einer vermeintlichen Alltagsszene an unbestimmtem Ort auftritt.<br />
Links von Bootsmasten und rechts durch einen kahlen<br />
Baum eingefasst, erstreckt sich die eisbedeckte Weite eines<br />
Binnengewässers unter dunstigem Abendhimmel. <strong>Die</strong> von<br />
grauviolettfarbenen Wolkenzügen und frostigem Himmelsblau<br />
überspannte Landschaft verbleibt nicht in der Bestimmung<br />
einer sachbezogenen Abbildung der Naturerscheinung, sondern<br />
erfährt eine künstlerische Überhöhung durch das Zusammenspiel<br />
der Ausdruckswerte von Farbe und Form.<br />
Was im See festgefrorene Schiffe zur wärmeren Jahreszeit<br />
zügig leisten, geht jetzt nur mühsam über Schlitten vorwärts,<br />
70<br />
die entweder von Hand schwer geschoben oder lastenbeladen<br />
von Pferden über das Eis gezogen werden müssen. Sämtliche<br />
Personen gehen gebeugt, wie angestrengt unter der<br />
Knechtschaft des Winters. So macht die künstlerische Unterordnung<br />
der Figuren in ihrer weniger differenzierten Ausführung<br />
gegenüber den Landschaftsdetails Sinn und vermittelt<br />
Verständnis für die Vorrangstellung der wenig menschenfreundlichen<br />
Winterwetterseiten. Damit pointiert Ostade die<br />
Einheit zwischen Mensch und Landschaft, die er in ihrem Abhängigkeitsverhältnis<br />
zueinander zeigt. <strong>Die</strong>se atmosphärische<br />
Darstellung des Winters darf als Sonderleistung innerhalb seines<br />
Œuvres angesehen werden, in ihr wird das Subjektive der<br />
künstlerischen Interpretation spürbar und befreit den Betrachtenden<br />
von einer nur nüchternen Kenntnisnahme des sinnlich<br />
Vorgestellten zu eigener Subjektivität. 25<br />
BARENT AVERCAMP, der Neffe und Schüler von Hendrick Avercamp<br />
war ursprünglich Holzhändler. <strong>Die</strong> Malerei gehörte<br />
aber sicherlich zu seinen Haupttätigkeiten, wurde er doch in<br />
den Jahren 1656, 1672 und 1677 zum Vorsteher der Lukasgilde<br />
von Kampen gewählt. Unternehmerische Nebentätigkeiten,<br />
die er wie viele seiner Künstlerkollegen ausübte, nahmen<br />
ihn wohl in den letzten Lebensjahren mehr und mehr in Anspruch.<br />
Als Mitinhaber einer Mühle und Besitzer einer Topfgießerei<br />
erlangte er Wohlstand und Ansehen. 26<br />
<strong>Die</strong> Bilder Barent Avercamps sind stilistisch stark durch die seines<br />
Onkels beeinflusst, ihre Qualität wird jedoch geringer eingestuft.<br />
Oft kopiert er Figuren nach dessen Gemälden, zeigt<br />
sie aber auch in zeitgenössischer Kleidung. Seine frühen Werke<br />
orientieren sich noch eng an den kleinteiligen und farbenfroh<br />
gestalteten Eisvergnügen. Gemälde wie die „Winterlandschaft<br />
mit zugefrorenem Fluss“ (Abb. 76) entstanden vermutlich<br />
erst nach der Mitte des Jahrhunderts. Entsprechend<br />
der allgemeinen Entwicklung der <strong>holländische</strong>n Landschaftsmalerei<br />
sind sie sparsamer motiviert und in toniger Malweise<br />
atmosphärisch eingetrübt. 27<br />
In der Winterlandschaft sind aus dem schier endlos scheinenden<br />
Menschenstrom auf dem Eis zwei Personen, ein Fischer<br />
und ein Junge, herausgehoben und durch ihre braunroten<br />
Mäntel farblich abgesetzt zum Grauschwarz der Passanten<br />
rechts und links. <strong>Die</strong> beiden sind an einem Mastbaum beschäftigt,<br />
der wohl dazu dient, ihr Fischernetz zum Trocknen<br />
aufzuhängen.<br />
Gegenüber den bühnenmäßig inszenierten Bildräumen, die<br />
noch sein Onkel schuf, wird hier eine Szene des flachen,<br />
schnee- und eisüberzogenen Landes zum dominierenden Gegenstand<br />
der künstlerischen Darstellung erhoben.<br />
71/72 Jan van Goyen<br />
1596 Leiden – 1656 Den Haag<br />
oben: Der Sommer 1621<br />
unten: Der Winter 1621<br />
Eichenholz, rund, Durchmesser 10,5 cm<br />
Der Sommer: Bez. links unten: I.V.GOIEN<br />
Der Winter: Bez. links unten: I.V.GOIEN 1621<br />
Erworben 1874<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 865 A/865 B
73 Jan van Goyen<br />
1596 Leiden – 1656 Den Haag<br />
Eislandschaft mit Schlittschuhläufern<br />
1643<br />
72<br />
Eichenholz, 24,8 x 32 cm (oben beschnitten; vermutlich ursprünglich ein Hochformat)<br />
Bez. links auf dem Schlitten: vG 1643<br />
Erworben 1904<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 865F
74 Jan van Goyen<br />
1596 Leiden –- 1656 Den Haag<br />
Eisvergnügen vor einem Wirtshaus<br />
1650<br />
Eichenholz, 35,5 x 39,4 cm<br />
Bez. links unten zweimal: vG 1650 vG 1650<br />
Erworben 1874<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 865C<br />
73
75 Isack van Ostade<br />
1621 Haarlem – 1649 Haarlem<br />
Eislandschaft mit Schlitten und eingefrorenen Booten<br />
Um 1645<br />
74<br />
Eichenholz, 21,4 x 25,7 cm<br />
Bez. links unten: Isack Ostade<br />
Erworben 1913<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 1709
76 Barent Avercamp<br />
1612/13 Kampen – 1679 Kampen<br />
Winterlandschaft mit zugefrorenem Fluss<br />
Um 1650/55<br />
Eichenholz, 20,4 x 32,6 cm<br />
Bez. rechts unten am Weg: Avercamp<br />
Erworben 1821<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 760<br />
75
77 Aert van der Neer<br />
1603/04 Amsterdam – 1677 Amsterdam<br />
Winterlandschaft mit Schlittschuhläufern bei Sonnenuntergang<br />
Um 1655/60<br />
76<br />
Lw., 42 x 56,5 cm<br />
Bezeichnung links unten: AV DN (jeweils verbunden)<br />
Erworben 1908<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 842E
Rückblickend in die Geschichte der Malerei kann man AERT<br />
VAN DER NEER als den Caspar David Friedrich unter den <strong>holländische</strong>n<br />
Winterlandschaftsmalern des 17. Jahrhunderts bezeichnen.<br />
In der Tat war der alte Meister für den deutschen Romantiker<br />
des 19. Jahrhunderts, insbesondere durch seine<br />
zahlreichen Landschaften im Mondschein (vgl. Abb. 43) und<br />
bei Sonnenuntergang, Anregung und Vorbild.<br />
Neers Kunst, die zu seinen Lebzeiten kaum gewürdigt wurde,<br />
gehört zu den bedeutenderen Leistungen der <strong>holländische</strong>n<br />
Landschaftsmalerei. Er spezialisierte sich auf die Darstellung<br />
von Winter- und Mondscheinlandschaften, die in ihrer stimmungsvollen<br />
Wiedergabe eine Steigerung des rein Zuständlichen<br />
erreichen. In der „Winterlandschaft mit Schlittschuhläufern“<br />
(Abb. 77) lässt das letzte Sonnenlicht die Dorfkirche mit<br />
ihrem spitzen Turmhelm wie im Nimbus erstrahlen und beleuchtet<br />
von dorther richtungsweisend die Szene auf dem Eis.<br />
<strong>Die</strong> Ausbreitung des Lichts, das den Bildraum durchflutet, wirkt<br />
zugleich erleuchtend und färbend. 28 Ein effektvolles Gemälde<br />
einer Abendstimmung aus der Reihe seiner etwa 150 Winterbilder.<br />
29<br />
<strong>Die</strong> Figuren sind gut beobachtet und treffsicher wiedergegeben.<br />
Individuen erscheinen als Typen, Vertreter ihrer Art: Geschäftige<br />
und Ruhende, die jungen Flitzer auf dem Eis neben<br />
der geschwätzigen Gruppe, Müßiggänger, Spieler und Gestolperte.<br />
Auch den Dickbäuchigen, eine versetzte Vertikalparallele<br />
zum Kirchturm im Vordergrund, trägt das Eis. Teilweise<br />
scheinen Interieurszenen nach draußen auf das Eis verlegt,<br />
wie die auf einem Stuhl sitzende Frau mit den beiden<br />
Kindern rechts im Bild.<br />
Ein Studienblatt, das Aert van der Neer zugeschrieben wird,<br />
gibt Einblick in den Entstehungsprozess eines solchen Gemäldes<br />
(Abb. 78). Es zeigt fünf Gruppen von Leuten auf dem Eis,<br />
eine Skizze zu einem Kahn und eine kleine Winterlandschaft.<br />
Deutlich wird, wie beispielsweise Kolfspieler oder Typen,<br />
gleich dem Dicken im Gemälde, in verschiedenen Positionen<br />
und Ansichten erprobt werden.<br />
Eine Bildsituation, wie van der Neer sie präsentiert, zieht den<br />
religionshistorischen Hintergrund der Reformation in den Blick.<br />
Glaubensfreiheit war das zentrale Novum im calvinistisch<br />
dominierten Holland. Gegründet auf die Rechtfertigung durch<br />
den Glauben, die universelle Priesterschaft und die alleinige<br />
Autorität der Bibel, stellte die protestantische Reformation den<br />
Menschen in ein direktes Verhältnis zu Gott. Der Reformator<br />
Calvin war jedoch, weit mehr als Luther, davon überzeugt,<br />
dass die Gläubigen nicht mit der Gewissheit ihres individuellen<br />
Glaubens allein gelassen werden durften, sondern eines<br />
festen Halts in der Pfarrgemeinde bedurften.<br />
Das Gemälde vermittelt ein Bild dieser neuen Gesellschaft,<br />
des reformierten Menschen, der gewissermaßen in Selbstbestimmtheit<br />
verantwortlich handelt. Das Kirchengebäude im<br />
Bildhintergrund versteht sich nach wie vor als Sinnbild der Gemeinschaft<br />
der Gläubigen, der Institution stehen jedoch die<br />
Menschen voran. Als These könnte man formulieren: das Bildthema<br />
handelt von einer reformatorisch geprägten Ecclesia<br />
auf dem Eis. Gleich, ob von Aert van der Neer intendiert oder<br />
nicht, die Aussage teilt sich in Rückschau auf den Geist der<br />
Zeit mit.<br />
78 Aert van der Neer (zugeschrieben)<br />
1603/04 Amsterdam – 1677 Amsterdam<br />
Studienblatt mit fünf Gruppen von Leuten<br />
Feder in Braun getuscht, zuunterst flüchtige Graphitskizze, 261 x 200 mm<br />
Erworben 1902<br />
Berlin, Kupferstichkabinett, KdZ 5338<br />
Der Blick auf die Stadt Vianen mit Schloss Batestein bildet<br />
nach W. Stechow den Hintergrund für eine Winterlandschaft<br />
von SALOMON VAN RUYSDAEL (Abb. 79). 30 Vorne links leitet ein<br />
bekränztes Marketenderzelt, hinter dem noch der First eines<br />
zweiten sichtbar wird, in das Geschehen auf dem Eis ein. Davor<br />
zahlreiche in Schlitten angereiste Gäste, unter denen neben<br />
dem Ziegenschlitten ein Prunkschlitten mit zwei Paaren in<br />
Rückenansicht auffällt. <strong>Die</strong> Rückwand dieses Schlittens trägt<br />
das Monogramm Ruisdaels und die Datierung 1653.<br />
Der Bildidee nächstverwandt ist das Gemälde „Winter bei<br />
Dordrecht“ aus dem gleichen Jahr. 31 Wieder wirkt die schräg<br />
bildeinwärts entwickelte Stadtkulisse am zugefrorenen Fluss<br />
mit einer Zeltgruppe im Vordergrund kompositionsbestimmend.<br />
Augenfälligster Unterschied bleibt neben einer variierten<br />
Figurenstaffage der von einem Schimmel gezogene, hier<br />
zum Betrachter gewendete Prunkschlitten.<br />
Für die begleitenden Stadtveduten hat sich Ruysdael deutlicher<br />
als sonst in seinen Werken an bekannte Plätze gehalten,<br />
wenngleich auch in seinen Winterlandschaften willkürliche<br />
77
79 Salomon Jacobsz van Ruysdael<br />
1600/03 Naarden – 1670 Haarlem<br />
Winterlandschaft mit Schlittschuhläufern und Zelt<br />
1653<br />
78<br />
Lw., 75 x 110 cm<br />
Bez. in der Mitte auf dem Schlitten: S.vR 1653 (vR verbunden)<br />
Leihgabe aus Privatbesitz
Änderungen und Kombinationen sowie reine Phantasiebauten<br />
nicht fehlen. 32<br />
Erst in der Spätzeit seines Schaffens um 1650 wendet sich Salomon<br />
van Ruisdael intensiver dem Thema Winterlandschaft<br />
zu. Stechow bescheinigt ihm Meisterschaft in diesem Fach,<br />
gerade auch im Hinblick auf die Wiedergabe des Atmosphärischen.<br />
Ruysdael wusste „um das kalte ,Stehen‘ der winterlichen<br />
Lokalfarben und Umrisse im Vordergrund, das Glitzern<br />
in den ferneren Partien, die besondere Art der Reflexe<br />
auf dem Eis.“ 33<br />
<strong>Die</strong> bewundernde Betrachtung der Stadtsilhouetten unter dem<br />
aufgerissenen Wolkenfirmament durch die prominent gesetzten<br />
Personen in den Prunkschlitten scheint als eigentliches<br />
Thema der vorbeschriebenen Winterszenen auf. An Stelle der<br />
sachlichen Schilderung landschaftlicher Motive tritt eine<br />
romantisch verklärende, nahezu pathetische Überhöhung der<br />
Kulturlandschaft im Gewand einer Winterszene.<br />
Das Gemälde „Schlittschuhläufer auf dem Y vor dem Paalhuis<br />
in Amsterdam“ (Abb. 81) führt in die undurchschaubaren Verhältnisse<br />
der KÜNSTLERFAMILIE BEERSTRAATEN. Es ist rechts unten auf<br />
einer Eisscholle mit dem Namen „J. Beerstraaten“ signiert. <strong>Die</strong><br />
verlorengeglaubte Datierung 34 „1664“ wurde erst jetzt wiederentdeckt,<br />
sie befindet sich gut lesbar unterhalb der Signatur<br />
auf einer zweiten Eisscholle.<br />
Eine weitgehend übereinstimmende Winterszene mit anderer<br />
Staffage und Wolkengestaltung beherbergt das Rijksmuseum<br />
Amsterdam unter gleichem Titel. 35 Ein Jahr früher als das<br />
Berliner Gemälde entstanden, 1663 datiert und signiert, wird<br />
das Werk für den niederländischen Maler und Zeichner Johannes<br />
Beerstraaten (1653–1708) in Anspruch genommen.<br />
Er hätte das Amsterdamer Gemälde im Alter von nur zehn Jahren<br />
geschaffen. 36 Es wird zu untersuchen sein, wie groß der<br />
Anteil seines Vaters, Jan Abrahamsz Beerstraaten d. Ä. (1622–<br />
1666) an den Werken ist. Für das Gemälde in Berlin besteht<br />
neben der Beteiligung des Vaters auch die Möglichkeit, dass<br />
es Jan Abrahamsz Beerstraaten d. J. (1627–1668) gemalt hat.<br />
Er, dessen verwandtschaftliche Verhältnisse zur Beerstraatenfamilie<br />
ungeklärt sind, kopierte nach Vorlagen von Johannes’<br />
Vater, Jan Abrahamsz Beerstraaten d. Ä.<br />
Nur einzelne Schlittschuhläufer und Schlittenfahrer zeigt der<br />
Maler auf der Eisfläche des ausgewählten Flussabschnitts, an<br />
dessen Uferbefestigung die festgefrorenen Boote aufgereiht<br />
sind. Alle Aufmerksamkeit zieht das Band der prächtigen<br />
Stadtarchitektur auf sich, das von rechts nach links in die Bildtiefe<br />
führt. Glanzstücke der Ingenieurbaukunst am und im<br />
Wasser beweisen ihre Winterfestigkeit und künden von der<br />
aufstrebenden Hafenstadt Amsterdam, die dem flämischen<br />
Antwerpen als Handelsmetropole des 17. Jahrhunderts längst<br />
ebenbürtig war. In Gewissheit dieser wirtschaftlichen Blütezeit<br />
können die Menschen sorglos auf dem Eis gleiten. So gesehen<br />
vermittelt das Gemälde wohl auch Bürgerstolz auf die erbrachten<br />
Leistungen und Selbstsicherheit im Umgang mit dem<br />
heimatlichen Land. Ein Patriotismus, den Jacobus Lydius 1668<br />
in die Zeile fasst: Unendlich danke ich Ihm, der Holland schuf<br />
wie Jerusalem. 37<br />
Schon den Göttern in skandinavischen Mythen dienten Schlittschuhe<br />
aus Tierknochen zum schnellen Dahingleiten. Pioniere<br />
des „Breitensports“ allerdings waren die Niederländer, nachdem<br />
der Schlittschuh im 15. Jahrhundert aus Holz und Eisen<br />
konstruiert wurde. Schlittschuhlauf war hier, frei von Standesschranken<br />
und Anstandsregeln, selbst Frauen gestattet. Außerhalb<br />
der Niederlande durfte eine Frau beim Winterspaß nur<br />
die Rolle der passiven Schönen spielen, im prachtvollen Schlitten<br />
vom Kavalier geschoben. 38 ANTHONIE VAN BEERSTRAATEN<br />
zeigt ein solches Wintervergnügen im kalten Blaugrau eines<br />
Wintertages auf der Eisfläche eines Flusses, der sich breit<br />
durch eine kleine Ortschaft zieht (Abb. 80). Auffällig stehen<br />
links im Bild hohe, fein verästelte, mit Schnee bedeckte<br />
Bäume. Sie reichen in den mattblauen Himmel, der von dunkelblaugrauen<br />
Wolken mit weißen Lichträndern durchzogen<br />
wird.<br />
Winterlandschaften dieser Art sind für Jan Abrahamsz wie für<br />
Anthonie van Beerstraaten charakteristisch. Beide kennzeichnet<br />
auch die Ausführung einer eleganten, etwas überhöhten<br />
Figurenstaffage. Als Grundprinzip ihrer Bildarrangements vereinigen<br />
sich Real- und Phantasiearchitektur in einem Gemälde,<br />
so dass topographische Merkmale und jahreszeitliche Stimmung<br />
zusammen eine poetische Komposition ergeben.<br />
Neben Jan van Goyen war PHILIPS WOUWERMAN einer der eifrigsten<br />
<strong>holländische</strong>n Kleinmeister. Er hat vermutlich etwa<br />
1000 Bilder gemalt, von denen ca. 700 erhalten sind. <strong>Die</strong><br />
späten Gemälde der 1650er und 1660er Jahre zeichnen sich<br />
aus durch Motivfülle, reiche Phantasie, geschickte Anordnung<br />
und Inszenierung, eine lebendige Erzählung sowie Helligkeit<br />
und Klarheit in der Farbgebung, wobei ein kühler Luftton vorherrscht.<br />
<strong>Die</strong>s gilt auch für die um 1660 entstandene Winterlandschaft<br />
mit Holzsteg (Abb. 82) der Gemäldegalerie Berlin.<br />
Das malerische Gefüge einer Holzbrücke, die einen kleinen,<br />
fast zugefrorenen Flusslauf überspannt, führt auf ein giebelständiges<br />
Gehöft am rechten Bildrand zu, vor dem ein kahler<br />
Baum, durch Lichtwirkung und bewegte Verästelung dramatisch<br />
in Szene gesetzt, die Vertikale gegenüber der Breitenausdehnung<br />
der Uferböschungen hervorhebt.<br />
In der imposanten Wolkendarstellung liegt Wouwermans Gemälde<br />
ein Kunstgriff zu Grunde, der neben bildkompositorischen<br />
Aspekten freilich mehr bietet als eine meteorologisch<br />
exakte Wolkenkonstellation. 39 Der hell-dunkel, fast schwarzweiße<br />
Kontrast in den Bildhälften erweist sich als offene Interpretationsmöglichkeit<br />
des Phänomens Natur bzw. der Kräfte<br />
des Himmels im Sinne von Existenzbedrohung und Existenzermöglichung<br />
für den Menschen. <strong>Die</strong>ser Dualismus bleibt auch<br />
im <strong>Kleine</strong>n sinnfällig, durch die Reisigträger am Steg, sie<br />
holen ein, was zuvor gewachsen ist, um gegen die Kälte im<br />
Haus zu heizen.<br />
Der kompositorische Höhepunkt des Bildes liegt mitten zwischen<br />
diesen Wolkenbergen, unter dem Steg: ein schwarzes<br />
Loch, der noch nicht zugefrorene Flussbereich. In dieser bedrohlich<br />
wirkenden Situation gehen die Menschen, klein gehaltene<br />
Figuren vor den übermächtigen Naturgewalten, unbeirrt<br />
ihren Beschäftigungen nach. Unübersehbar, hervorgehoben<br />
durch die den Blick auf sich ziehende rote Mütze, fährt<br />
79
80 Anthonie Beerstraaten<br />
1637 Amsterdam – um 1665<br />
Zugefrorener Fluss mit Schlittschuhläufern und Spaziergängern<br />
Um 1655 (?)<br />
80<br />
Lw., 36 x 55 cm<br />
Bez. links unten auf einem Brett: A. B. fec.<br />
Erworben 1853<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 848B
81 Johannes Beerstraaten (?)<br />
1653 Amsterdam – nach 1708<br />
Schlittschuhläufer auf dem Y vor dem Paalhuis<br />
und der Nieuwe Brug in Amsterdam<br />
1664<br />
Lw., 90 x 127 cm<br />
Bez. links unten: J. Beerstraten fecit 1664<br />
Erworben 1846<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 868A<br />
81
82 Philips Wouwerman<br />
1619 Haarlem – 1668 Haarlem<br />
Winterlandschaft mit Holzsteg<br />
Um 1660<br />
82<br />
Eichenholz, 30,6 x 36,9 cm<br />
Erworben 1908<br />
Berlin, Gemäldegalerie, Kat.Nr. 900F
83 Jacob Isaacsz van Ruisdael<br />
1628/29 Haarlem – 1682 Amsterdam<br />
Winterlandschaft mit Aussicht über die Amstel nach Amsterdam<br />
Um 1670/75<br />
Lw., 45 x 54,5 cm<br />
Bez. links unten: JvRuisdael (JvR verbunden)<br />
Leihgabe aus Privatbesitz<br />
83
ein spielendes Kind mit dem Schlitten auf der Eisfläche. Ein unschuldiges<br />
Vergnügen am Rande des Abgrundes. Es scheint,<br />
als wäre die durch den Propheten Jesaja verkündete paradiesische<br />
Endzeit nicht fern: „Der Säugling spielt vor dem<br />
Schlupfloch der Natter, das Kind streckt die Hand in die<br />
Höhle der Schlange“ (Jes. 11, 6). <strong>Die</strong> typologisch von der Ankunft<br />
des Messias kündende Weihnachtsepistel schließt sich in<br />
den Kontext der Winterzeit ein. 40<br />
Waren Winterbilder Pieter Bruegels d. Ä. noch eine Überschau<br />
auf ganze Weltlandschaften, die zu einer einzigen gewaltigen<br />
Metapher der Mächte und des Daseins verschmolzen,<br />
gereicht nunmehr ein bestimmter, dramaturgisch inszenierter<br />
Erdenwinkel zur gleichen Aussagekraft. Und es ist in<br />
beiden Fällen an der Oberfläche doch nichts weiter als ein<br />
Blick in die Natur, eine Landschaft. 41<br />
Im Machtbereich des Protestantismus suchten die Maler frühzeitig<br />
nach Möglichkeiten, das Numen der Heiligendarstellung<br />
in die von der religiösen Zensur gestatteten Stilleben- und<br />
Landschaftsbilder hinüberzuretten. In diesen Bildgattungen<br />
entwickelte sich eine eigene säkulare Rhetorik. Insbesondere<br />
die Landschaftsgemälde JACOB VAN RUISDAELs lesen sich wie<br />
ein Erbauungstraktat, so real und ungestellt die Kompositionen<br />
auch wirken mögen. 42 Der Neffe Salomon van Ruysdaels<br />
gilt als der bedeutendste <strong>holländische</strong> Landschaftsmaler des<br />
17. Jahrhunderts. Seine Wasserfall-Gemälde (vgl. Abb. 24)<br />
kennen in der niederländischen Landschaft keine Vorbilder.<br />
Sie sind, so das Fazit von W. Wiegand, als Variationen eines<br />
Themas zu begreifen, das im Zentrum barocker Weltsicht<br />
beheimatet ist: Vanitas. 43 Zahllos sind die Belege in Bibel, zeitgenössischer<br />
Dichtung und Spruchweisheit, die das menschliche<br />
Leben mit einem ablaufenden Wasser oder Strom vergleichen<br />
und den geknickten oder gefällten Baum als Metapher<br />
des Todes einsetzen. 44 In eine solche Grundstimmung<br />
fallen sicher auch die schwermütigen Winterbilder Ruisdaels,<br />
von denen rund 25 Gemälde überkommen sind, die zumeist<br />
in den letzten Schaffensjahren des Malers, ab etwa 1655, im<br />
Anschluss an seinen Umzug nach Amsterdam entstanden. So<br />
auch das Werk „Winterlandschaft mit Aussicht über die Amstel<br />
nach Amsterdam“ (Abb. 83) aus Privatbesitz, das in die<br />
erste Hälfte der sechziger Jahre datiert wird. 45 Es schildert nicht<br />
die Freuden, die diese Jahreszeit mit sich bringt. Hier ist nicht<br />
an vergnügte Schlittschuhläufer zu denken, auch nicht an die<br />
lyrisch-romantische Eleganz der Gemälde eines Jan van de Cappelle.<br />
Ruisdael hat in diesem und einigen verwandten Bildern<br />
die winterliche Szenerie mit düsteren, freudlosen Gedanken<br />
verknüpft. Der Tag geht zur Neige, Dunkelheit und Kälte senken<br />
sich über das Gehöft herab. <strong>Die</strong> Welt wirkt eng und<br />
dumpf, erstarrt in Trostlosigkeit und Todesahnung. Mit großer<br />
Meisterschaft ist die eigentümliche Lichtsituation eines frühen<br />
Winterabends eingefangen, wenn der Schnee das letzte Licht<br />
reflektiert und die beginnende Dunkelheit einen fahlen bläulichen<br />
Schimmer über die Landschaft breitet. Der Leitgedanke<br />
scheint die einsame, düstere Stimmung eines Wintertages zu<br />
sein, die diese Jahreszeit gleichsetzt mit Traurigkeit und Tod.<br />
84<br />
Bedenken gegen eine solche, von Rosenberg und Slive ausgesprochene<br />
Interpretation meldet J. Walford an: „Ruisdael’s<br />
image is not one of ,sadness and imminent tragedy‘ for he represents,<br />
in contrasting warm tones, the relieving cheer of a<br />
typical, late afternoon ,Opklaring‘ – brightening up.“ 46 Aber<br />
gilt in diesem Bildzusammenhang der weiße Rauch aus dem<br />
Schornstein noch als Zeichen eines warmen, behaglichen<br />
Hauses, wie es van Mander für dieses Motiv vorgibt? 47<br />
<strong>Die</strong> Deutung der Situation bleibt ambivalent. Es ist die besondere<br />
Art einer düsteren Harmonie, die das Werk Jacob van<br />
Ruisdaels kennzeichnet, versehen mit einer Spur jenes Pessimismus’<br />
barocker Lyrik, wie ihn treffend auch ein niederländisches<br />
Sprichwort vermittelt: Ons leven is een winterpad: Na<br />
weinig droogs, al weder nat (Unser Leben ist ein Winterpfad:<br />
Ein Stückchen trocken und schon wieder nass).<br />
Aus den Winterlandschaften spricht eine spezifisch künstlerische<br />
Sichtweise auf die Situation Hollands im 17. Jahrhundert.<br />
Aufgezeigte literarische, theologische und politische<br />
Inhalte oder die Dimension sozialer Bedeutungen stellt die<br />
<strong>holländische</strong> Malerei ihren Betrachtern nicht als einen Text vor<br />
Augen, den man eindeutig zielgerichtet zu lesen und zu denken<br />
hätte. „Sie gibt lediglich Hinweise und Anregungen, löst<br />
Assoziationen aus und stützt Gedankenbrücken.“ 48<br />
<strong>Die</strong> extremeren Klimabedingungen können die Thematik „Winter“<br />
mit herausgefordert haben, entscheidend ist jedoch, dass<br />
Naturdinge und Menschenwerk erstmals unter einem einheitlichen<br />
optischen und psychischen Moment dargestellt werden.<br />
Denn: „Was die Landschaftsgemälde in dieser Zeit von solchen<br />
in der älteren Kunst [...] unterscheidet, ist nicht ein höheres<br />
Maß an Naturtreue der Einzeldinge, sondern die Einheitlichkeit<br />
der Abstraktion im Ganzen.“ 49 Zwar überrascht die<br />
<strong>holländische</strong> Landschaftsmalerei durch ihre „Natürlichkeit“,<br />
Natürlichkeit bedeutet aber nichts anderes als einen hohen<br />
Grad an Wahrscheinlichkeit für Darstellungsgegenstand und<br />
Darstellungsart. <strong>Die</strong>se Wahrscheinlichkeit, die in den theoretischen<br />
Schriften des Jahrhunderts oft erörtert wird, bleibt eine<br />
Instanz der Phantasie. 50<br />
<strong>Die</strong> Gemälde sind folglich immer Bilder aus dem Geiste, das<br />
heißt, in vielfacher Hinsicht reflektierte, durchdachte Werke,<br />
wobei die Schulung an den realen Erscheinungen der Natur<br />
nur ein Aspekt unter vielen im Entstehungsprozess ausmacht.<br />
<strong>Die</strong> Leistung der <strong>holländische</strong>n Malerei liegt in der Bildkomposition:<br />
in der Disposition des Bildaufbaues, dem Arrangement<br />
der Szenerie, den Ausdruckswerten der Farbigkeit und<br />
der Tiefendimension inhaltlicher Deutungsoffenheiten. Es ist<br />
Natur im Gewand eines Bildes, niemals nur nüchtern konstatierende<br />
Bestandsaufnahme der Topographie. Elemente der<br />
Landschaft werden nicht wiedergegeben wie man sie begreift,<br />
sondern wie man sie sieht, empfindet und deutet. 51<br />
Es liegt in der Natur begründet, das trotz lustiger Eisvergnügen<br />
Winterlandschaften die allgemeine Metaphorik einer<br />
Seinsallegorie immer beibehalten. Tod und Leben ziehen im<br />
Winter ihre Grenze. 52
Anmerkungen<br />
1 Vgl. A. Wied (1990), S. 34.<br />
2 Ebd. S. 36.<br />
3 Ebd. S. 35, 175 Nr. 79.<br />
4 Ebd. S. 175, Nr. 77.<br />
5 N. Schneider (1994), S. 28.<br />
6 Ebd. S. 28f.<br />
7 Bock/Rosenberg (1930), Bd. 1, S. 71, Nr. 2230, Bd. 2, Abb. Taf. 58.<br />
8 Vgl. Ausstellungskatalog Frozen Silence, Amsterdam (1982), S. 92f.,<br />
Nr. 9, mit Farbabb.<br />
9 Hendrick Avercamp, Winterlandschaft mit Schlittschuhläufern, bez. H<br />
Aenricus Av, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv. Nr. A 1718.<br />
10 Hendrick Avercamp, Winterlandschaft mit Schlittschuhläufern, bez. auf<br />
dem Schlitten H. A., Puschkin Museum Moskau, Inv. Nr. 593.<br />
11 Vgl. Breen, Adam van, in: Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 14, München/Leipzig<br />
1996, S. 64–65 (M. C. de Kinkelder).<br />
12 Adam van Breen, Wintervergnügen, bez.: A. v. Breen 1611, Amsterdam,<br />
Rijksmuseum, Inv. Nr. A 2510.<br />
13 Meyer, Julius/Bode, Wilhelm: Verzeichniss der ausgestellten Gemälde<br />
und Handzeichnungen aus den im Jahre 1874 erworbenen Sammlungen<br />
des Herrn Barthold Suermondt, Berlin 1875, S. 37, Nr. 38.<br />
14 Vgl. C. Brown (1984), S. 192.<br />
15 Adam van Breen, Winteransicht des Vijverberg zu Den Haag, bez.:<br />
A. van Breen 1618, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv. Nr. A 955.<br />
16 Vgl. K. Renger (1994), S. 28–29, mit Abb.<br />
17 Daten nach J. Giltaij, Jan van Goyen, in: Herren der Meere – Meister der<br />
Kunst. Das <strong>holländische</strong> Seebild im 17. Jahrhundert, Ausstellungskatalog,<br />
Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, 1996/1997,<br />
Berlin, Gemäldegalerie im Bodemuseum, 1997, hrsg. v. Jeroen Giltaij<br />
und Jan Kelch, Gent 1996, mit weiterer Literatur zur Biographie van<br />
Goyens.<br />
18 H.-U. Beck (1972/73), Bd. 1, S. 39f.; C. Vogelaar (1996), S. 84f.<br />
19 Ebd. Bd. 2, S. 2ff.<br />
20 Ebd. Bd. 1, S. 46f.<br />
21 Ebd. S. 47.<br />
22 Vgl. Gemäldegalerie Berlin, Katalog der ausgestellten Gemälde (1975),<br />
S. 184.<br />
23 Ebd., S. 183.<br />
24 Vgl. Ausstellungskatalog: Colf, Kolf, Golf, van middeleeuws volksspel tot<br />
moderne sport, Bergen op Zoom u. a. 1982, S. 19ff.<br />
25 Vgl. Meisterwerke (1985), S. 252.<br />
26 Vgl. Avercamp, Barent, in: Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 5, München/Leipzig<br />
1992, S. 729 (D. B. Hensbroek-v. d. Poel).<br />
27 Vgl. Gemäldegalerie Berlin, Katalog der ausgestellten Gemälde (1975),<br />
S. 34.<br />
28 Vgl. H. Kauffmann (1923), S. 107.<br />
29 Vgl. F. Bachmann (1982), S. 98.<br />
30 Vgl. W. Stechow (1975), S. 69, Nr. 7.<br />
31 Ebd. Nr. 6.<br />
32 Vgl. ebd. S. 26.<br />
33 Zit. nach W. Stechow (1975), S. 25.<br />
34 Vgl. dazu den Katalog der Gemäldegalerie Berlin aus dem Jahre 1976,<br />
S. 13, dort von I. Geismeier der letzte publizierte Hinweis auf die Datierung:<br />
„Nach alten Angaben trug Nr. 868A früher die Datierung 1664...“<br />
35 Johannes Beerstraaten, Eislauf auf dem Y beim Paalhaus und der Neuen<br />
Burg in Amsterdam, bez.: Joannes Beerstraaten 1663, Amsterdam, Rijksmuseum,<br />
Inv. Nr. C 1175.<br />
36 Vgl. Beerstraaten, Johannes, in: Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 8, München/Leipzig<br />
1994, S. 257–258 (Uta Römer).<br />
37 Jacobus Lydius, t’ Verheerlijckt Nederland, 1668. Vgl. Schama, Simon,<br />
Überfluß und schöner Schein, München 1988, S. 67.<br />
38 Vgl. Lettau (1994), S. 20.<br />
39 Vgl. dazu den Beitrag „Der unvollständige Himmel“ von F. Ossing in diesem<br />
Katalog, S. 41.<br />
40 Zu religiösen Themen und Landschaften in den Werken Wouwermans<br />
vgl.: B. Schuhmacher (1989), S. 106ff, 148ff.<br />
41 Vgl. K. Demus (1989), S. 92.<br />
42 Vgl. Josua Bruyn, Toward a Scriptural Reading of Seventeenth-Century<br />
Dutch Landscape Paintings, in: P. C. Sutton (1987), S. 84ff.<br />
43 Vgl. W. Wiegand (1971), S. 91.<br />
44 Ebd. S. 88ff., 90.<br />
45 Vgl. S. Slive (1981), S. 101, Nr. 33.<br />
46 Vgl. E. J. Walford (1991), S. 159.<br />
47 Van Mander, Bucolica en Georgica, Amsterdam 1597, S. 5.<br />
48 Zit. nach: R. Schleier (1985) S. 46.<br />
49 Zit. nach E. Hubala (1970), S. 59.<br />
50 Vgl. ebd. S. 59.<br />
51 Zit. nach E. Hubala (1970), S. 59.<br />
52 Für Anregungen und Korrekturen danke ich J. Budde, K. Ebel, A. van<br />
der Goes, H. Nützmann, U. Sbresny, E.-A. Schmitt und F. Seedorfer.<br />
85
Zur Ausstellung sind über dreißig Kunstwerke der Gemäldegalerie<br />
Berlin, ergänzt durch Leihgaben aus dem Kupferstichkabinett<br />
Berlin und aus privatem Besitz ausgewählt worden,<br />
um sich einmal mehr mit der Frage nach dem Realitätsgehalt<br />
der <strong>holländische</strong>n Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts zu<br />
befassen. Dabei bleiben die Positionen der Kunsthistoriker<br />
nicht unter sich, sie nehmen den Dialog mit den Naturwissenschaften<br />
auf. In Zusammenarbeit mit dem GeoForschungsZentrum<br />
Potsdam fließen dazu Fragestellungen zur Landschaftsbildung,<br />
Wolkensituation und Klimaforschung in die Beurteilung<br />
der Gemälde ein. <strong>Die</strong> Ergebnisse der Geowissenschaften<br />
bieten für die Kunsthistoriker sachdienliche Informationen zur<br />
ikonographischen Analyse der Kunstwerke.<br />
<strong>Die</strong> „<strong>Kleine</strong> Eiszeit“ gilt als durch Änderungen der Sonnenstrahlung<br />
verursachte Klimavariation. Das mit dieser Klimaschwankung<br />
verbundene Himmelsbild, insbesondere die Wolkenerscheinung,<br />
unterscheidet sich nicht grundsätzlich vom<br />
heutigen Himmel. Dennoch ergeben die Wolken auf den<br />
Gemälden der <strong>holländische</strong>n Meister des 17. Jahrhunderts<br />
keinen vollständigen wissenschaftlichen Wolkenkatalog. Zwar<br />
finden sich alle Haupt-Wolkengattungen in den Gemälden<br />
wieder und ihre Darstellung entspricht durchaus der meteorologischen<br />
Realität, aber bestimmte Wolkenarten, Unterarten<br />
und Begleitwolken tauchen nicht oder nur selten auf. <strong>Die</strong>ses<br />
hat keinen meteorologischen oder klimatologischen Grund.<br />
<strong>Die</strong> Erforschung des Klimas vergangener Zeiten erfolgt durch<br />
Untersuchung verschiedener natürlicher Klimaarchive, wie<br />
Baumringe und Eisbohrkerne. Als einzigartiges Archiv erweisen<br />
sich die Ablagerungen in Binnenseen. Besonders die Seen<br />
erloschener Vulkane, die Maare, sind außergewöhnlich detaillierte<br />
Klimazeugen. Das Algenwachstum in diesen Stehgewässern<br />
hängt von Temperatur und Sonnenstrahlung ab, daher<br />
sind bestimmte Kieselalgen ein Klimaindikator. <strong>Die</strong> Ablagerung<br />
von Algenblüten über z.T. hunderttausend Jahre<br />
erlaubt Rückschlüsse auf die natürlichen kurzfristigen Klima-<br />
86<br />
Zusammenfassung<br />
änderungen. Bei der Untersuchung von Maarsee-Sedimenten<br />
ließen sich Spuren der sogenannten „<strong>Kleine</strong>n Eiszeit“ feststellen,<br />
die gegen Ende des 16. Jahrhunderts begann und um<br />
die Mitte des 19. Jahrhunderts endete. <strong>Die</strong> niedrigeren<br />
Durchschnittstemperaturen, der erhöhte Niederschlag und die<br />
anzunehmenden höheren Windgeschwindigkeiten finden sich<br />
als Klimasignal wieder.<br />
<strong>Die</strong> extremeren Klimabedingungen können die Thematik<br />
„Winter“ mit herausgefordert haben, entscheidend ist jedoch,<br />
dass Naturdinge und Menschenwerk in den Gemälden erstmals<br />
unter einem einheitlichen optischen und psychischen Moment<br />
dargestellt werden. <strong>Die</strong> Landschaftsmalerei dieser Zeit<br />
unterscheidet sich von der älteren Kunst nicht durch ein höheres<br />
Maß an Naturtreue der Einzeldinge, sondern durch abstrahierendes<br />
Gestaltungsvermögen im Bildganzen.<br />
<strong>Die</strong> Frage nach Erfindung und Wirklichkeit in der <strong>holländische</strong>n<br />
Landschaftsmalerei muss als Paradoxon beantwortet<br />
werden: die Künstler haben ihre Bilder realistisch „erfunden“.<br />
Eine bloß realistische Darstellung hätte ihrem Selbstverständnis<br />
nicht genügt, allein die Schilderung des Tatsächlichen wäre<br />
zu belanglos gewesen. Vielmehr zielte das Bestreben darauf,<br />
charakteristisches der Landschaft hervorzuheben und mit<br />
sinnbildlichen Vorstellungen zu verbinden.<br />
Als Fazit der Untersuchungen beider Disziplinen kann festgehalten<br />
werden, dass die Gemälde in den wenigsten Fällen<br />
exakte Dokumentationen ihres jeweils gewählten Landschaftsausschnitts<br />
sind, sondern ausbalancierte Darstellungen zwischen<br />
Tatsachenschilderung einerseits und freier Erfindung andererseits.<br />
Den Zeitgenossen galt jenes Landschaftsgemälde<br />
als gelungen, das den Eindruck erweckte, ganz „naer het<br />
leven“ (nach dem Leben) entstanden zu sein. <strong>Die</strong>ser Effekt war<br />
aber durchaus synthetisch herzustellen: in der Disposition des<br />
Bildaufbaues, dem Arrangement der Szenerie und den Ausdruckswerten<br />
der Farbigkeit. Der Maler fungierte als letzte<br />
Instanz und als Schöpfer „plausibler Fiktionen“.
Over thirty works of art from the Berlin Painting Gallery, complemented<br />
by loans from the Berlin Museum of Prints and Drawings<br />
and from private collections, were chosen for this exhibition to permit<br />
an investigation of the reality content of seventeenth-century<br />
Dutch landscape paintings once again. Not only were the positions<br />
of art historians considered in this endeavor; they also engage in a<br />
dialogue with the natural sciences. Working in collaboration with<br />
the GeoForschungsZentrum in Potsdam, aspects of landscape formation,<br />
cloud situations, and climate research have contributed to<br />
the assessment of the paintings. The findings of the geo-sciences<br />
provided art historians with useful information which could be<br />
applied in iconographical analyses of the works of art.<br />
The "Little Ice Age" is regarded as a climatic variation caused by<br />
fluctuations in solar radiation. The appearance of the sky which is<br />
associated with this climatic change - particularly the cloud features<br />
- does not differ fundamentally from today's sky. Nevertheless, the<br />
clouds painted in works of the Dutch masters of the seventeenth century<br />
do not provide a complete scientific catalogue of clouds.<br />
Although all the main cloud genera are found in the paintings and<br />
their depictions correspond to meteorological reality, certain cloud<br />
varieties, sub-varieties, and accessory clouds do not appear, or<br />
rarely do so. There is no meteorological or climatological explanation<br />
for this.<br />
Climatic change in historical times is investigated by studying natural<br />
climatic archives such as tree rings and ice cores. Sediments<br />
deposited in lakes have proven to be an unparalleled archive. Small<br />
maar lakes of volcanic origin in particular provide unusually detailed<br />
records of climatic change. As the growth of algae in these<br />
lakes depends on temperature and solar radiation, certain diatoms<br />
can be used as indicators of climatic change. The sedimentation of<br />
algal blooms from a period of up to one hundred thousand years<br />
Summary<br />
allows the reconstruction of natural, short-term variations in climate.<br />
The so-called "Little Ice Age" that began towards the end of the sixteenth<br />
century and lasted until the middle of the nineteenth century<br />
could be traced in maar lake deposits. Low average temperatures,<br />
rising precipitation, and higher wind speeds are recorded as climatic<br />
signals in the sediments of this period.While the more extreme<br />
climatic conditions may have been a factor which encouraged the<br />
topic of winter in painting, it is decisive that for the first time phenomena<br />
of nature and works of man are represented under unified<br />
optical and psychic conditions. Landscape painting of this period<br />
differs from older art less in its higher degree of fidelity to nature in<br />
terms of individual objects than in its ability to generalize in the<br />
design of the picture as a whole.<br />
The question of invention and reality in Dutch landscape painting<br />
has to be answered with a paradox: the artists "invented" their<br />
paintings realistically. A mere realistic representation would not<br />
have satisfied their conception of self, and a mere description of the<br />
actual circumstances would have been too trivial. On the contrary,<br />
their aim was to emphasize the characteristic elements of the landscape<br />
and to link them with symbolic ideas.<br />
It can be concluded from the research in both disciplines that in very<br />
few cases are the paintings exact documentations of the detail of<br />
nature chosen, but instead they are balanced representations between<br />
the description of facts on the one hand and free invention<br />
on the other. Landscape paintings which gave the impression that<br />
they had been painted totally "naer het leven" (after life) were considered<br />
successful by contemporaries. But this effect could also be<br />
produced synthetically: in the organization of the composition, the<br />
arrangement of the scenery, and the expressive values of the coloring.<br />
The painter acted as the highest authority and creator of "plausible<br />
fictions." Translation: Tas Skorupa<br />
87
Kursiv gesetzte Zahlen geben die Seitenzahlen der<br />
Abbildungen an, fett gedruckte verweisen auf ausführliche<br />
Erwähnungen.<br />
Alsloot, Denis van 64<br />
Asselijn, Jan 29, 36, 37, 51, 55<br />
Avercamp, Barent 70, 75<br />
Avercamp, Hendrick 66, 66, 67, 68, 70<br />
Backhuysen, Ludolf 54<br />
Beerstraaten, Anthonie van 79, 80<br />
Beerstraaten, Jan Abrahamsz d. Ä. 79<br />
Beerstraaten, Jan Abrahamsz d. J. 79<br />
Beerstraaten, Johannes 79, 81<br />
Blaeu, Willem Jansz 28<br />
Bles, Herri 11<br />
Borcht, Pieter van der 68<br />
Breen, Adam van 68, 69<br />
Bruegel, Jan d. Ä. 14, 64, 68<br />
Bruegel, Pieter d. Ä. 11, 16, 64, 84<br />
Brugghen, Gerard ter 42<br />
Cappelle, Jan van de 84<br />
Cézanne, Paul 11<br />
Constable, John 41<br />
Everdingen, Allart van 26, 35<br />
Friedrich, Caspar David 77<br />
Goes, Hugo van der 64<br />
Goyen, Jan van 11, 16, 17, 18, 24, 46, 49,<br />
68, 70, 71, 72, 73, 79<br />
Haagen, Joris van der 33<br />
Hals, Dirck 20<br />
Hobbema, Meinard 62<br />
Hoogstraaten, Samuel van 16, 42<br />
88<br />
Künstlerverzeichnis<br />
Koninck, Philips 26, 32, 46<br />
Lairesse, Gerard de 42<br />
Mander, Karel van 16, 24, 42<br />
Merian, Maria Sibylla 64<br />
Metsu, Gabriel 21<br />
Molijn, Pieter de 44, 45<br />
Momper, Joos de 64<br />
Neer, Aert van der 46, 50, 76, 77, 77<br />
Ostade, Isack van 70, 74<br />
Patenier, Joachim 11<br />
Pot, Hendrick Gerritsz 18, 19<br />
Poussin, Nicolas 46<br />
Rembrandt Harmensz van Rijn 11<br />
Ruisdael, Jacob Isaacsz van 11, 22, 23, 24, 26, 35, 41,<br />
42, 43, 44, 46, 48, 62, 83, 84<br />
Ruysdael, Salomon Jacobsz van 46, 47, 62, 63, 77, 78,<br />
79, 84<br />
Santvoort, Pieter Dircksz van 39<br />
Valckenborch, Lucas van 64, 65<br />
Velde, Adriaen van de 38<br />
Velde, Esaias van de 14, 15, 16, 22, 44, 64, 68<br />
Venne, Adriaen Pietersz van de 12, 13, 14<br />
Verhaecht, Tobias 16<br />
Vermeer, Jan 11<br />
Vinckboom, David 68<br />
Wouwerman, Philips 31, 40, 51, 79, 82
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Abbildungsnachweis<br />
J. P. Anders, Berlin: 1, 2, 3, 4, 5, 7, 8, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28,<br />
29, 30, 33, 36, 40, 41, 42, 43, 50, 66, 67, 69, 70, 71, 72, 73,<br />
74, 75, 76 , 77, 79, 80, 81, 82, 83, Umschlag Vorder- und Rückseite<br />
A. Brauer, <strong>GFZ</strong> Potsdam: 59<br />
C. Brüchmann, U. Kienel, <strong>GFZ</strong> Potsdam: 62<br />
<strong>GFZ</strong> Potsdam: 16, 57, 61, 63, 64, 65<br />
F. Ossing, <strong>GFZ</strong> Potsdam: 9, 10, 11, 12, 14, 15, 17, 18, 19, 20, 21,<br />
31, 32, 34, 35, 37, 38, 39, 44, 45, 46, 47, 48, 49, Umschlag<br />
Rückseite oben<br />
Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett: 78<br />
Staatsbibliothek, Kartenabteilung: 13<br />
M. Sturm, EAWG Schweiz: 60<br />
University of Warwick, History of Art Dept.: 6<br />
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