Papa träumte nie vom Verreisen. Nur vom Wegfahren. Egal wohin, Hauptsache, in einem Mercedes. Wir hangelten uns von Opel Rekord zu Rekord. Aber eines Tages, so sein Mantra, werde auch in unserer 70er-Jahre-Rotklinker-Garage mal ein Mercedes-Benz stehen.
Jahrzehntelang leuchtete der Stern in einer fernen Galaxie. Mercedes fuhren nur die anderen. Seine Chefs, die Großbauern oder die Nachbarn, denen ein Betonwerk gehörte. Und dann waren da noch die, die zur Schicht fuhren. Aus unserem Dorf ins 60 Kilometer entfernte Bremen – zu Mercedes. Wer dort arbeitete, so hieß es, habe es geschafft, verdiene gut. Und bekomme satte Rabatte.
Ein Mercedes war für Nachkriegskinder wie meinen Vater das Zeichen von Wohlstand, von Wirtschaftswunder. In großen, barocken Limousinen saßen große Männer. Adenauer, Brandt, Schmidt, Kohl.
Starke Verbundenheit: Die Werksangehörigen zeigen auf Plakaten ihre eigenen 190er.
Bild: Holger Karkheck

Und dann kam er: der 190er. Der "Baby-Benz". Und auf einmal, so schien es, konnten auch Arbeiter wie mein Vater nach den Sternen greifen. Dabei war der Direktörchen-Daimler mit knapp 26.000 Mark Grundpreis alles andere als günstig. Unser Opel Rekord E Luxus kostete 1982 exakt 20.284 Mark.

Mercedes-Kunden stehen Schlange

Was viele ja nicht wissen: Der neue Schwabe konnte alles, vor allem Hochdeutsch. Über die Hälfte aller gebauten 190er liefen in Bremen vom Band. Eigens für die neue Baureihe entstand damals im Stadtteil Sebaldsbrück die modernste Autofabrik der Welt. Mit Robotern! Mit ergonomischen Arbeitsplätzen!
Als die ersten 1200 Exemplare des "Baby-Benz" Anfang Dezember 1982 im Rahmen einer bundesweiten Sternfahrt zu den Autohändlern kommen, stehen die Kunden Schlange. Vor der Mercedes-Niederlassung in Berlin bricht der Verkehr zusammen, bereits am Nachmittag sind 100 Autos verkauft.
Der Benz vor den alten Borgward- Hallen im heutigen Mercedes- Werk Bremen. Die Bäume hat Carl Borgward angeblich selbst gepflanzt.
Bild: Holger Karkheck

Und BILD am SONNTAG vermeldet: "Das hat es in der deutschen Autogeschichte noch nicht gegeben: Der Run auf den neuen Mercedes 190 schlägt alle Rekorde." 33 Prozent der Bundesdeutschen wollen damals laut einer Umfrage gern Mercedes fahren. Tatsächlich sind es nur sieben Prozent.

90 PS aus zwei Litern Hubraum

Kurz: Mehr Brimborium gab es seitdem wohl nie wieder für ein neues Kraftfahrzeug. Auch die Motorjournalisten jubeln: "Ein Mercedes mit GTI-Gefühl."
Nun, wer heute mit 90 PS aus zwei Litern Hubraum und 110 km/h über die A 1 von Hamburg nach Bremen zuckelt, sieht das etwas anders. Aber ja, der 190er ist damals mit 1100 Kilo der leichteste Mercedes aller Zeiten, optisch sowieso.
Kein Chrom, das hohe Heck, klare Linien: Mercedes- Chefdesigner Bruno Sacco (heute 89) ist ein großer Wurf gelungen.
Bild: Holger Karkheck

Hausdame Beate Jünger (37) wird nach einer Testfahrt in München so zitiert: "Prima, er ist nicht so groß und schwer wie die anderen Modelle – ideal zum Einparken, prima für Kinder, weil er vier Türen hat."

1983 folgt die Dieselvariante

Vieles ist damals neu am neuen Benz. Er hat einen Handbremshebel statt der bei Daimler üblichen Fuß-Feststellbremse – ganz einfach, weil im Fußraum Platz fehlt. Dazu eine aufwendige "Raumlenker-Hinterachse". Und, was mich als Kind sehr fasziniert hat: nur einen Scheibenwischer mit einer speziellen Mechanik. Einen Hubkolbenscheibenwischer, um genau zu sein.
1983 kommt die Dieselvariante, der 190 D. Der "Flüsterdiesel". Sein Geräusch gehört für mich genauso zur Kindheit wie die gefederten Sitze – wenn ich mal bei den Nachbarn mitfahren durfte.
Bei der Produktion des 190ers kamen schon Roboter zum Einsatz.
Bild: Holger Karkheck

Der 190er wird zum ersten klassenlosen Mercedes-Benz, wenn man so will. Der spanische König lässt ihn sich persönlich vorführen. Und der junge Fußball-Nationalspieler Lothar Matthäus (22) semmelt mit ihm nachts in Herzogenaurach gegen einen Telefonmast.

1.879.629 produzierte Mercedes 190

In Bremen bei Mercedes sind sie bis heute stolz auf "ihren" 190er. Gerade hängen überall im Werk Plakate, auf denen Mitarbeiter ihre eigenen Exemplare zeigen, die sie hegen und pflegen. Viele von denen, die damals am Band standen, arbeiten bis heute hier.
Genau 1.879.629 Exemplare des 190ers wurden zwischen 1982 und 1993 produziert. Seitdem heißt die Baureihe C-Klasse. Ein "Baby-Benz" ist sie heute längst nicht mehr. Das aktuelle Modell ist rund 30 Zentimeter länger und knapp 15 Zentimeter breiter als sein Urmeter.
Alte und neue Welt: Im Verwaltungsgebäude stehen 190er und EQE nebeneinander.
Bild: Holger Karkheck

In Deutschland verkauft Mercedes inzwischen vor allem SUV. Die erfolgreichsten Modelle heißen GLK und GLC. Die C-Klasse kommt erst auf Platz vier (Statistik für 2021). Und wer heute durchs Werk in Bremen geht, muss tatsächlich suchen, bis er mal eine klassische Limousine zwischen all den hochgebockten, Verzeihung, teils adipösen Protzkarren entdeckt.
Als ich vor einigen Jahren versierte Kollegen fragte, welchen Gebrauchten ich kaufen solle, war die einhellige Meinung: einen Mercedes. Ich entschied mich für einen älteren C 180 Kompressor, Baujahr 2009. Ungefähr zwei Jahre später stieß ich ihn wieder ab. Mit 50 Euro Verlust.
Mein Vater hat sich dann übrigens doch nie einen Mercedes geleistet. Er fuhr nur mal beruflich einen. Den Bremer Transporter, mit Schweinen hintendrin zur Notschlachtung. Immerhin kam er aus dem gleichen Werk wie der 190er.